Nord Stream 2: US-Sanktionen richten sich primär gegen deutsche Wirtschaftsinteressen (II)

Nord Stream 2: US-Sanktionen richten sich primär gegen deutsche Wirtschaftsinteressen (II)

Das Ringen um das Mega-Energieprojekt Nord Stream 2 ist längst zu einem Fanal der Geopolitik des 21. Jahrhunderts geworden. Der Kampf um die globale Vormachtstellung, der unter anderem zwischen den USA und Russland geführt wird, hat sich nach dem Machtwechsel in Washington deutlich verhärtet. Auch Deutschland und Europa müssen die eigenen Interessen mit Kraft verteidigen.

Berlin und Brüssel wurden insbesondere im Verlauf des Baus der zweiten Ostsee-Gasleitung, die sowohl für die Bundesregierung als auch die EU als lukratives Geschäft gilt, damit konfrontiert, sich vehement gegen die US-Diplomatie behaupten zu müssen. Denn Washington verfolgt eigene fundamentale Wirtschaftsinteressen und versucht alles zu tun, um den Pipelinebau zu stoppen. Der kürzliche Verzicht der Biden-Administration auf Sanktionen gegen den deutschen Betreiber von Nord Stream 2 hat an der grundsätzlichen Haltung der USA in dieser Streitfrage aber nichts geändert.

Im ersten Teil von „Nord Stream 2: US-Sanktionen richten sich primär gegen deutsche Wirtschaftsinteressen“ ging es in erster Linie um Deutschlands fundamentale Interessen bei der Energiepolitik sowie darum, wie sich die damit in Konkurrenz stehenden wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen der Vereinigten Staaten auf die Umsetzung von Nord Stream 2 auswirken.

Deutsche Wirtschaftsinteressen zielen im Hinblick auf die 9,5 Milliarden Euro teure Ostseepipeline jedoch nicht ausschließlich auf den Zugang zu billigeren Ressourcen oder auf eine Senkung der Gaspreise ab, sondern auch darauf, die Gaslieferungen von Russland nach Deutschland und andere EU-Länder, basierend auf gegenseitigen wirtschaftlichen Interessen und dem prognostizierten Anstieg der Gasnachfrage auf den EU-Märkten, zu erweitern und die Energiesicherheit der EU durch diese sichere Lieferungen zu stärken.

Washingtons aggressive Energiediplomatie hingegen hat zum Ziel, die Umsetzung von Nord Stream 2 gemäß den eigenen Interessen zu verhindern und damit die gesamte Strategie der Westeuropäer umzuwerfen.

Gefährliche Abhängigkeit vom Gastransit durch die Ukraine

Was die Erweiterung der Gaslieferung und die Stärkung der EU-Energiesicherheit anbelangt, so würde ein Scheitern von Nord Stream 2 bedeuten, dass Deutschland und Europa weiterhin von dem problematischen Gastransit durch die Ukraine abhängig wären. Dies bürgt für Berlin und Brüssel eine große Gefahr, da man, falls ein Teil der ukrainischen Gastransitlieferungen nach Europa aufgrund von technischen Problemen oder politischen Spannungen ausfällt, nicht ausreichend andere Kapazitäten zur Verfügung hätte.

Für die USA bedeutet dieser Umstand sowie die fortwährende Abhängigkeit der führenden EU-Industrieländer von dem Gastransit durch die Ukraine einen langfristigen strategischen Nutzen. Für Berlin etwa, das bis 2022 den kompletten Ausstieg aus der Atomkraft realisieren will, ist eine sichere und ökonomisch vertretbare Energieversorgung essentiell. Bei dem besagten Transit könnte dies unter bestimmten Umständen allerdings nicht mehr gewährleistet werden. Eine mögliche Reduzierung der russischen Gaslieferungen und der damit verbundene Preisanstieg für Gas würde die deutsche Industrie und damit die gesamte EU-Wirtschaft hart treffen. Hohe ökonomische Verluste für die betroffenen Unternehmen wären die Folge.

Dafür gibt es mehrere Perspektiven: das marode Gastransportsystem der Ukraine, die instabile politische Lage in dieser verarmten Ex-Sowjetrepublik sowie die höchst problematischen ukrainisch-russischen Beziehungen. Angesichts dessen ist der Transit durch die Ukraine langfristig durchaus mit möglichen Zusatzkosten, Lieferstopps, einem Defizit bei dem Transitvolumen, und dadurch zwangsläufig mit höheren Gaspreisen für die Endverbraucher verbunden.

Denn Lieferunterbrechungen wirken sich in erster Linie negativ auf die Preisgestaltung für Erdgas aus. Grundsätzlich wird der Gaspreis für Haushalte wesentlich von den Beschaffungskosten auf den internationalen Gasmärkten bestimmt, die laut dem Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) etwa 40 Prozent des Betrags ausmachen. Früher hatten die Gasversorger auf die Höhe dieser Kosten praktisch keinen Einfluss, weil die Gaspreise an die Entwicklung der Ölpreise gekoppelt waren. Seit der teilweisen Auflösung der Ölpreisbindung in den vergangenen Jahren hängen die Beschaffungskosten nicht mehr einzig von der Entwicklung der Ölpreise ab.

Zudem basiert der Marktpreis für Erdgas, ungeachtet aller Regeln, auf Prognosen, Gerüchten und externen Gründen, die den Spekulanten in die Hände spielen. So können selbst kurze Lieferstopps einen enormen Einfluß auf die Preisgestaltung haben, wie der Gasstreit zwischen Kiew und Moskau 2009 gezeigt hatte. Von so einer Unterbrechung wären sowohl Deutschland als auch Russland betroffen – Berlin hätte mit Wirtschaftseinbußen zu rechnen, Moskau mit fehlenden Einnahmen sowie mit reputationstechnisch negativen Konsequenzen.

US-LNG statt preiswerteres russisches Pipeline-Gas

Abgesehen von der Ukraine-Problematik halten die Befürworter der Ostseepipeline den Amerikanern entgegen, sie seien nur auf bessere Absatzchancen für ihr Flüssiggas (LNG, Liquefied Natural Gas) in Europa aus. Der entscheidende Punkt ist aber, dass das russische Gas deutlich billiger und daher ökonomisch vorteilhafter ist, als die verflüssigte Alternative.

Experten nach sollen die zukünftigen Preise für Erdgas auf den europäischen Großhandelsmärkten hauptsächlich im Wettbewerb der beiden Angebotsoptionen Flüssiggas und Pipeline-Gas bestimmt werden. Wichtig zu betonen ist, dass das russisches Pipeline-Gas vielerorts in Europa niedrigere marginale Angebotskosten im Vergleich zu LNG hat, weshalb es bei dem direkten Preisvergleich deutlich besser abschneidet. Man geht bei dem russischen Angebot von einem rund 20 Prozent niedrigeren Preis aus als bei dem US-Flüssiggas.

Notfalls könnte Moskaus Preisstrategie für Gas sich immer an dem Niveau der LNG-Importpreise zuzüglich der Transportkosten vom nächstgelegenen LNG-Importterminal orientieren und notfalls den eigenen Preis drücken.

Die bessere Wettbewerbsposition der Russen war für Washington von Anfang an vermutlich ein wichtiger Grund gewesen, gegen Nord Stream 2 vorzugehen. Es galt dabei Russland so weit wie möglich aus dem europäischen Gasgeschäft zu verdrängen, um dem Land sowohl einen herben wirtschaftlichen Schaden zuzufügen als auch seine Positionen auf dem europäischen Gasmarkt einzunehmen. Betrachtet man den Umstand, dass schon die Obama-Administration Moskau als den direkten Konkurrenten bei der Gasversorgung Europas betrachtete und dass Washington den russischen Anteil von etwa 40 Prozent am europäischen Gasverbrauch am liebsten massiv reduzieren und im Gegenzug das eigene LNG bereitstellen würde, dann wird deutlich, dass es auch um viel Geld für alle Beteiligten geht.

Abgesehen von zusätzlichen Einnahmen haben die USA offenbar nichts dagegen, die deutsche Industrie langfristig an diesen viel teureren Energieträger aus Übersee zu binden und die deutschen Firmen damit vor eine kostspielige Produktion zu stellen. Zudem kann der Umstieg auf das Flüssiggas, das obendrein noch aus einer Entfernung von 8.000 Kilometern geliefert werden muss, weitere Negativfolgen für die deutsche und anderen europäischen Volkswirtschaften verursachen: Deren Entwicklung könnte sich verlangsamen und die Fähigkeit, mit US-Unternehmen auf den Weltmärkten zu konkurrieren, dadurch vermindern.

Schwierigkeiten bei der LNG-Nutzung

Kritiker von Flüssiggas verweisen darüber hinaus auf instabile Preisentwicklung und kompliziertes Geschäftsmodell bei der der LNG-Versorgung. Deutlich wurde dies im vergangenen Jahr, als der Nachrichtenagentur Reuters zufolge mehrere Energie-Giganten in Europa und Asien wegen Flüssiggas-Bestellungen aus den Vereinigten Staaten mit Problemen konfrontiert worden waren.

Im April 2020 hatten Großkonzerne wie BP, Shell, Enel, Total oder Uniper ihre LNG-Bestellungen in den USA storniert und mussten allerdings trotz des Verzichts auf die Abnahme den vereinbarten Kaufpreis bezahlen. Laut Geschäftsmodell liegt das daran, dass die Kunden immer für den Service der Gasverflüssigung aufkommen müssen, ob sie das Gas abnehmen oder nicht. Um das Erdgas in großen Mengen auch über weite Strecken verschiffen zu können, wird das Gas auf minus 162 Grad Celsius heruntergekühlt, sodass es flüssig wird und nur noch ein Sechshundertstel seines ursprünglichen Volumens hat. In den LNG-Terminals wird das verflüssigte Gas nach dem Transport wieder in seinen Urzustand zurückversetzt und über das bestehende Pipelinesystem verteilt. Im Übrigen verdienen die Verflüssigungsanlagen weniger am Gas selbst, sondern vorrangig an der Verflüssigung als Dienstleistung. Nach dem aufgrund der Corona-Krise verursachten massiven Rückgang des Gasverbrauchs in Europa war es für die Kunden offenbar ökonomischer geworden, das Gas dennoch nicht abzunehmen.

Im Dezember führte eine massive Nachfrage nach Treibstoff wegen einem Kälteeinbruch in weiten Teilen Asiens sowie der Anstieg der Spotpreise für Flüssiggas auf ein 6-Jahreshoch zur Verschärfung einer Versorgungskrise in den wichtigsten schnell wachsenden Schwellenländern auf dem Kontinent. Die LNG-Preise hatten laut Reuters einen Punkt erreicht, an dem die Abnahme für einige preissensible Käufer nicht mehr rentabel wurde. Aus Sorge, dass hohe Gaspreise die Inputkosten bei der Produktion erhöhen und die Energie für die Verbraucher teurer machen könnten, sagten mehrere asiatische Unternehmen zum Beispiel aus Pakistan und China daher einen Großteil ihrer LNG-Importe ab.

Wie geht es mit dem Energieprojekt weiter?

Ungeachtet der genannte Probleme sehen die Aussichten für die Realisierung von Nord Stream 2 inzwischen günstig aus. Aus technischer Sicht ist die 1230 Kilometer lange Gasleitung zu 95 Prozent fertiggestellt. Die Arbeit an dem verbliebenen Abschnitt läuft zudem unentwegt weiter, damit der Bau bis spätestens September dieses Jahres vollendet wird.

Auch politisch scheint der Weg frei zu sein: Nachdem die US-Regierung bereits vergangene Woche offiziell auf das Verhängen von Sanktionen gegen die deutsche Betreibergesellschaft der Pipeline verzichtet hatte, stellte US-Staatschef Joe Biden am 26. Mai in Aussicht, keine neuen Beschränkungen gegen Nord Stream 2 einzuführen. Er sei „von Anfang an“ gegen das Projekt gewesen, aber nun sei die Pipeline fast fertig, sagte Biden in Washington. Zudem wären Sanktionen zur Verhinderung der bereits fast fertiggestellten Pipeline „kontraproduktiv“ für das Verhältnis zu Europa.

Den deutschen und europäischen Verbrauchern sollte das recht sein. Vor allem für die  Bundesrepublik, die bis zum vollständigen Austritt aus der Atomkraft im kommenden Jahr in jedem Fall das Problem der Versorgung ihrer Einwohner mit Energie lösen muss. Und weil der Anteil der „grünen Energie“ am Gesamtverbrauch derzeit bei weitem nicht ausreichend ist, wird die zweite Ostseepipeline mit einer Gesamtkapazität von 55 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr insofern definitiv zu einem wichtigen Aspekt bei der Energiesicherheit Deutschlands und Europas.

Von Alexander Männer erschienen auf EuroBRICS unter Creative Commons-Lizenz 4.0.

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