Lukaschenko setzt auf Wirtschaft, zerstört aber den IT-Sektor

Lukaschenko setzt auf Wirtschaft, zerstört aber den IT-Sektor

Angesichts der schlechten Wirtschaftslage kann man nicht auf Sicherheit und Ruhe im Land zählen, sagte der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko bei einem Treffen mit Mitgliedern des Sicherheitsrates. Er forderte die Teilnehmer des Treffens auf zu prüfen, wie die Regierung, Unternehmen und die Nationalbank des Landes unterstützt werden können. Parallel dazu gab er den Leitern der Strafverfolgungsbehörden Anweisungen, um den ununterbrochenen Betrieb der Unternehmen im Land sicherzustellen.

„Gibt es eine florierende Wirtschaft, so wird es auch alles andere geben. Gibt es keine Wirtschaft – dann sollte man weder auf die Ideologie noch auf die Sicherheit sowie auf die Ruhe im Land zählen.“ zitiert BelTA Lukaschenko. Die Ministerpräsidenten Russlands und Weißrusslands, Michail Mischustin und Roman Golowtschenko, hatten sich am Donnerstag in Minsk getroffen. Dabei betonte auch Mischustin das Primat der Wirtschaft: Die Zukunft des Unionsstaats werde auf wirtschaftlichen Maßnahmen beruhen, auf die sich Russland und Weißrussland geeinigt hätten.

Lukaschenko sieht sein Land gut aufgestellt. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern habe Belarus wegen der Coronavirus-Pandemie keine strengen Quarantänemaßnahmen eingeführt. „Wir haben nicht aufgehört, wir produzieren, und wir haben eine Chance, die wir heute nutzen, um unsere Produkte zu verkaufen. Verkaufen Sie mit guter Wertschöpfung, mit gutem Gewinn.“ Belarus solle die Exporte von Nahrungsmitteln und anderen Gütern steigern, so Lukaschenko.

Trotz dieses freiwilligen oder erzwungenen Bekenntnisses zur Bedeutung der Wirtschaft üben die belarussischen Sicherheitskräfte weiterhin Druck auf IT-Unternehmer au. Nach Yandex bekam letzte Woche das Büro der amerikanischen Softwarefirma PandaDoc in Minsk Besuch. Am Tag nach der Durchsuchung wurde ein Strafverfahren eingeleitet und vier Führungskräfte des Unternehmens wegen „Veruntreuung in großem Umfang“ festgenommen. Sie sollen 107.000 belarussische Rubel (etwa 34.000 Euro) aus dem Staatshaushalt gestohlen haben.

Die Firma hält den Vorwurf für unbegründet. Er gilt als Rache für die Initiative von PandaDoc-Gründer Mikita Mikado, der finanzielle Hilfe für diejenigen versprochen hatte, die aus den Sicherheitskräften austreten wollen. „Es gibt kein Gesetz mehr. Die Behörden versuchen nicht einmal, gesetzeskonform zu handeln, sie fabrizieren einfach Fälle für politische Anordnungen, die von oben kommen“, berichtete PandaDoc.

Inmitten der aktuellen Proteste haben auch andere IT-Unternehmer Geld für von der Polizei festgenommene Personen gesammelt und Aktivisten eingestellt und umgeschult, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Der Roboterhersteller Rozum Robotics stellt Leute aus Kleinstädten ein, die nach der Teilnahme an Protesten entlassen wurden.

Wenn der Fall nicht abgeschlossen ist, wird PandaDoc sein belarussisches Büro schließen. Das Dokumentenverwaltungsunternehmen PandaDoc hat seinen Sitz in den USA, Belarus und Russland. Die Mitarbeiter des russischen IT-Giganten Yandex in Belarus beginnen bereits, nach Russland umzuziehen, während Viber die Schließung seines Büros in Minsk angekündigt hat. Alle, die mit dem Wirtschaftsportal The Bell sprachen, waren sich einig: Wenn Lukaschenko an der Macht bleibt, ist der IT-Sektor in Belarus am Ende – der einzige Teil der Wirtschaft, auf den das Land wirklich stolz sein kann.

Der belarussische IT-Sektor ist der einzige Teil der Wirtschaft, der in den letzten Jahren ein signifikantes Wachstum verzeichnete. Zu den wichtigsten Technologiemarken aus Belarus gehören das beliebte Online-Spiel World of Tanks und der Messenger Viber. Zwischen 2017 und 2019 stiegen die Exporte von IT-Dienstleistungen aus Belarus um fast 150 Prozent auf einen Wert von 2 Milliarden Dollar, und im vergangenen Jahr entfielen fast 50 Prozent des BIP-Wachstums des Landes auf Technologieunternehmen. Gegenwärtig macht der IT-Sektor in Belarus bis zu 6,1 Prozent des BIP des Landes aus (in Russland liegt der Anteil unter ein Prozent). In den letzten Jahren ist der Anteil der IT am belarussischen BIP schneller gewachsen als in anderen Entwicklungsländern, sogar Indien überholt. Noch im Februar hatte der belarussische Wirtschaftsminister Dmitry Krutoi versichert, der Anteil der IT an der belarussischen Wirtschaft könnte bis 2022 und 2023 auf 10 Prozent steigen.

Der IT-Sektor des Landes hat sich traditionell aus der Politik herausgehalten, unterstützt aber jetzt offen die Opposition. Einige IT-Mitarbeiter hatten bereits vor den aktuellen Protesten gegen die Regierung mobilisiert. Zur Überwachung der Wahlen wurden mehrere Start-ups gegründet: Golos für die Überprüfung der Stimmenauszählung; Bison für das Sammeln von Daten über Verstöße gegen die Wahlbestimmungen; und Honest People für die Sammlung von Zeugenaussagen am Wahltag. Sie alle gewannen innerhalb weniger Tage Millionen von Benutzern, was weit über die meisten kommerziellen Start-ups hinausgeht.

Am 12. August forderten Hunderte von Führungskräften und Tausende von Mitarbeitern belarussischer IT-Unternehmen in einem offenen Brief, die Gewalt der Polizei zu stoppen und neue transparente Präsidentschaftswahlen abzuhalten. Der Technologiesektor der belarussischen Wirtschaft war der erste, der rebellierte.

Für viele Weißrussen, nicht nur in der IT-Branche, war die Pandemie der letzte Weckruf. Da sich das Virus schnell ausbreitete, fanden die Menschen ihre eigenen Lösungen und Unternehmen begannen sich zu organisieren, gründeten Selbsthilfegruppen, versorgten Mediziner mit Lebensmitteln und druckten Masken. Wenn Lukaschenko gegen die Proteste weiterhin eisern vorgeht und an der Macht festhält, wird die IT-Branche des Landes sicherlich auseinanderfallen. Es ist schwer vorstellbar, was mit der belarussischen Wirtschaft passieren würde, wenn der gesamte IT-Sektor, der vor diesen Protesten von niemandem im Land berührt worden war, das Land verlässt. Das wäre ein katastrophaler Schlag gegen die belarussische Wirtschaft, deren Bedeutung Lukaschenko derzeit so lobt. „Wenn das Regime gewinnt, wird Belarus zu Nordkorea, das sich in Europa befindet. Den Menschen bliebe nichts als massive Auswanderung“, warnt PandaDoc-Chef Mikado.

Einen bereits ausgewanderten Gegner aus dem IT-Bereich hat Lukaschenko als eingefleischten Gegner, den er nicht zu fassen bekommt. Den belarussischen Studenten Stepan Putilo, der sich rechtzeitig von seinen Mitstreitern nach Warschau evakuieren http://www.russland.news/wie-nexta-die-belarussen-auf-die-strassen-holt/ ließ, von wo aus er über die Messenger-App Telegram seinen Kanal Nexta leitet. Sein „Sprachrohr“ ist mittlerweile der einflussreichste Kanal der Protestbewegung. Sein Hauptkanal Nexta-Live zählt über 2,1 Millionen Abonnenten, davon etwa zwei Drittel Landsleute, so Putilo, der einige Zeit als Journalist gearbeitet hat und sich heute als Aktivist und Blogger bezeichnet.

Nexta ist zu einer Medienmacht geworden, für den 66-jährigen Lukaschenko kaum noch kontrollierbar. Sein „größter Fehler war, das Internet abzuschalten“, sagt der Minsker Journalist Franak Viačorka. „Dadurch hat er Telegram zur treibenden Kraft der Proteste gemacht.“  Zur kleinen Revolution von unten, ohne Anführer, die sich vor allem über Nexta organisiert.

Dafür bedroht das Regime in Minsk ihn mit einer Strafe von bis zu 15 Jahren Haft. Der Vorwurf: Er habe angeblich Massenunruhen in Belarus organisiert. Putilo stellt sich auf einen längeren Kampf ein: Lukaschenko werde vor allem der wirtschaftliche Druck schaden.

[hrsg/russland.NEWS]

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