Weniger als die Hälfte der Russen zählt sich zur Mittelschicht

Weniger als die Hälfte der Russen zählt sich zur Mittelschicht

Die Krisenjahre und der Rückgang der Realeinkommen der Bevölkerung haben die Mittelschicht schwer getroffen. Der Anteil der Personen, die sich mit ihr identifizieren, sank von 60 Prozent im Jahr 2014 auf 47 Prozent im Jahr 2018, so die Ergebnisse der vierteljährlichen Umfrage „Ivanov Konsumenten Index“, die im Auftrag der Sberbank CIB durchgeführt wird. Der Anteil derjenigen, die glauben, dass ihr Einkommen unter dem Durchschnitt liegt, stieg um – den gleichen Prozentsatz – von 35 auf 48 Prozent.

Zwischen 2015 und 2017 war ein starker Rückgang der Mittelschicht zu verzeichnen. In den vergangenen 15 Monaten ist der Anteil stabil geblieben, so Jaroslaw Lisowolik, Chefanalytiker der Sberbank CIB. Wenn ein Mensch sparen, reisen und in Restaurants gehen kann, fühlt er sich als der Mittelschicht angehörend, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler,  aber wenn nur für die Grundausgaben genügend Geld vorhanden ist, nur als Mitglied in Schicht „unter dem Durchschnitt“.

In Moskau sank der Anteil der Mittelschicht zwischen 2014 und 2018 von 63 Prozent auf 54 Prozent, während der Anteil der Menschen mit niedrigem Einkommen von 27 Prozent auf 39 Prozent stieg, schreiben die Sberbank CIB-Analysten in der Studie „Russische Regionen: Wo liegt das Wachstumspotenzial?“ In anderen Regionen ist die Situation ähnlich. In St. Petersburg sank der Anteil der Mittelschicht von 58 Prozent auf 51 Prozent, in anderen Städten mit einer Bevölkerung von über einer Million Menschen von 61 auf 49 Prozent und in den Regionen von 56 auf 45 Prozent. Der Anteil der Menschen mit niedrigem Einkommen stieg von 34 auf 45 Prozent, von 34 auf 48 Prozent und von 39 auf 51 Prozent.

Laut Rosstat sinkt das Realeinkommen der Russen seit fünf Jahren in Folge und liegt immer noch unter dem Vorkrisenniveau von 2013. Moskau litt mehr als andere Städte unter der Krise, sagen die Analysten der Sberbank. Wenn die Reallöhne aller Russen Ende 2017 um 11 Prozent niedriger waren als im Jahr 2013, so waren die der Moskauer um 21 Prozent gesunken. Im Jahr 2010 waren die nominalen Einkommen der Moskowiter 2,5-fach höher als in anderen Regionen und 2017 lag es nur noch 1,9-fach darüber. Die Umfrage ergab, dass 32 Prozent der Moskauer und 43 Prozent der Einwohner anderer Regionen keine Ersparnisse haben. Sieben Prozent der Hauptstadtbewohner der und zwölf Prozent der anderen russischen Bürger sind mit Schulden belastet. Die Moskowiter beabsichtigen, zusätzliche Einnahmen zu sparen, während die Bewohner anderer Regionen sie für die Schuldentilgung ausgeben. Der Konsum wird sich langsamer erholen als die Einnahmen.

In den Jahren 2005 bis 2013 verfolgten die Behörden eine Politik der Verringerung der Kluft zwischen dem Einkommen der Reichsten und den Ärmsten, indem sie einen Teil der zusätzlichen Öleinnahmen zur Anhebung von Löhnen und Renten überwiesen. Aber dann konnte der russische Haushalt dies nicht mehr finanzieren, erinnert sich Vladimir Tichomirov, Chefökonom bei BCS Global Markets,

Das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung erwartet in der angepassten Prognose der sozioökonomischen Entwicklung für 2019 ein Wachstum der Realeinkommen um 1 Prozent, dann eine Beschleunigung auf 1,5 Prozent im Jahr 2020 und in den Folgejahren auf 2,2 bis 2,4 Prozent.

Der Anteil der Mittelschicht sollte mit dem Einkommen wachsen, sagt Lisowolik. Er könnte 50 Prozent erreichen, wenn sich Wirtschafts- und Einkommenswachstum wieder stabilisieren.

Tichomirow glaubt nicht an eine signifikante Steigerung. Im Jahr 2019 dürfte die Situation für die Mittelschicht weniger günstig sein als in den Vorjahren, da die Indexierung der Löhne des öffentlichen Sektors die Einkommensdynamik nicht mehr unterstützen wird, stimmt Natalia Orlowa, Chefökonomin der Alfa Bank, zu. Auch die Beschleunigung der Inflation wird die Wahrnehmung des Wohlbefindens beeinflussen. Gleichzeitig begannen die Einlagenzinsen in der zweiten Hälfte des Jahres 2018 zu wachsen. Die Verringerung der Erträge aus Finanzinvestitionen war einer der Hauptgründe für den Ertragsrückgang im vergangenen Jahr, stellt sie fest.

Kirill Tremasow, Direktor der analytischen Abteilung von Loko Invest, sagte: „Die Menschen verstehen, dass auch das Einkommen und der Lebensstandard der übrigen Bevölkerung gesunken sind. Also bin ich nicht schlechter dran als die Mittelschicht und verbleibe in der Mittelschicht. Es ist nur so, dass nicht jeder eingesehen hat, dass der Rückgang des Lebensstandards ein ernstes Problem ist, und lange andauern wird.“

Traditionell gilt die Mittelschicht als das Rückgrat wirtschaftlichen und sozialpolitischen Stabilität im Staat -, sagt Wladimir Trubin, ein Experte in der sozialpolitischen Abteilung des Analysezentrums unter der Regierung. Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen der Nachhaltigkeit der Mittelschicht und dem Wirtschaftswachstum, wie der Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) betont. Ihre Experten erklären dies mit der intoleranten Haltung der Mittelschicht gegenüber Korruption und ihrem Glauben an demokratische Institutionen. In den letzten 30 Jahren ist der Anteil der Mittelschicht in den OECD-Ländern von 64 Prozent der Bevölkerung auf 61 Prozent gesunken. Dies ist mit politischer Instabilität behaftet, die Investitionen und Wirtschaftswachstum behindern könnte, warnte die Organisation. Die Welle des Populismus in vielen entwickelten Ländern ist ein Protest gegen die Herausbildung von immer größeren Menschengruppen, die glauben, dass sich ihre Situation nicht mehr verbessert und die Chancen schrumpfen, mahnte Jon Trisi, Herausgeber des Anlage-Newsletters Fuller Treacy Money.

[hub/russland.NEWS]

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