Verfassungsreform 2020: Russland wendet das Völkerrecht nicht mehr an?Taras Derkatsch, Ph.D., Senior Associate

Verfassungsreform 2020: Russland wendet das Völkerrecht nicht mehr an?

In seiner Rede an die Nation am 15. Januar schlug Präsident Putin u.a. vor, den Vorrang der Bestimmungen der russischen Verfassung vor internationalem Recht in der Verfassung festzulegen. Dies hatte zur Folge, dass einige Massenmedien schon jetzt verlauten ließen, dass Russland sich vom internationalen Recht abwende oder sogar die Beschlüsse des internationalen Gerichts nicht anerkennen werde. Ist das so? Ein Jurist klärt auf.

Am 23. Januar 2020 verabschiedete die Staatsduma in erster Lesung einen auf Initiative des russischen Präsidenten verfassten Gesetzesentwurf zur Überarbeitung der Verfassung der Russischen Föderation (Nr. 885214-7).

Unter anderem sollte in der Verfassung auf Vorschlag des Präsidenten ausdrücklich der Vorrang ihrer Bestimmungen vor internationalem Recht festgelegt werden. Dies hatte zur Folge, dass einige Massenmedien schon jetzt verlauten ließen, dass Russland sich vom internationalen Recht abwende. Ist das so?

Aus den der Staatsduma vorgestellten Verfassungsänderungen ist ersichtlich, dass die Anforderungen völkerrechtlicher Verträge und Beschlüsse internationaler Organe innerhalb von Russland nur insoweit gelten sollen, als sie der russischen Verfassung nicht widersprechen und die Rechte und Freiheiten der Menschen und Bürger nicht beschränken. Als Muster soll hierbei offensichtlich das Recht der USA und einiger anderer Länder dienen, in denen der Vorrang des Völkerrechts vor nationalem Recht traditionell nicht anerkannt wird.

Der Entwurf enthält nur eine Bestimmung, die diese Vorschläge des Präsidenten betrifft. So soll Art. 79 der Verfassung wie folgt ergänzt werden: „Beschlüsse zwischenstaatlicher Organe, die auf der Grundlage von Bestimmungen völkerrechtlicher Verträge der Russischen Föderation in einer Auslegung gefasst wurden, die der Verfassung der Russischen Föderation widerspricht, dürfen in der Russischen Föderation nicht vollstreckt werden.“

Der Entwurf enthält allerdings keine Änderung von Art. 15 Ziffer 4 der Verfassung, wonach die allgemein anerkannten Grundsätze und Vorschriften des Völkerrechts und völkerrechtlicher Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems sind und wonach im Fall, dass durch einen völkerrechtlichen Vertrag der Russischen Föderation andere Regelungen festgelegt sind als durch das Gesetz, die Regelungen des völkerrechtlichen Vertrages anzuwenden sind. Der Entwurf hält folglich den Vorrang der allgemein anerkannten Grundsätze und Vorschriften des Völkerrechts und der völkerrechtlichen Verträge der Russischen Föderation vor den Bestimmungen des russischen Rechts aufrecht.

Allerdings dürfen nach dem Entwurf Beschlüsse internationaler Organe in einer Auslegung, die der russischen Verfassung widerspricht, in Russland nicht vollstreckt werden.

Hierzu ist anzumerken, dass dieser Mechanismus an sich nicht neu für die russische Rechtsordnung ist. Für den Fall, dass das Verfassungsgericht der Russischen Föderation der Auffassung ist, dass eine Verordnung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte („EGMR„) in einer Auslegung, die der russischen Verfassung widerspricht, nicht vollstreckt werden kann, ordnete das das Verfassungsgericht bereits 2015 an[1], dass eine solche Verordnung insofern nicht vollstreckbar ist. Diese Auffassung des Verfassungsgerichts wurde später gesetzlich verankert[2] und gilt nun für die Beschlüsse sämtlicher zwischenstaatlicher Organe zum Schutz der Rechte und Freiheiten des Menschen (und nicht nur des EGMR).

Sinngemäß laufen die Verfassungsänderungen jetzt auf eine zusätzliche Ausweitung dieses Rechts des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation hinaus, indem es grundsätzlich die Beschlüsse sämtlicher zwischenstaatlicher Organe umfasst. Hierzu gehören beispielsweise:

  • der Internationale Gerichtshof
  • der Ständige Internationale Gerichtshof
  • der Internationale Seegerichtshof
  • die Schlichtungsgremien und das Berufungsgremium der WTO
  • der Gerichtshof der EAWU
  • die Eurasische Wirtschaftskommission
  • das Zwischenstaatliche Luftfahrtkomitee
  • und andere.

Der Entwurf wird somit in der aktuellen Fassung verabschiedet werden und Russland wird einen rechtlichen Mechanismus erhalten, mit dessen Hilfe es Beschlüsse der oben genannten (und beliebiger anderer) zwischenstaatlichen Organe nicht vollstrecken muss, wenn sie der russischen Verfassung (nicht aber föderalen Gesetzen und anderen normativen Rechtsakten der Russischen Föderation) widersprechen.

Um diese Bestimmung umzusetzen, erhält das Verfassungsgericht der Russischen Föderation neue Befugnisse. Nach der voraussichtlichen neuen Bestimmung (Art. 125 Ziffer 51 der Verfassung) wird das Verfassungsgericht nach dem durch ein föderales Verfassungsgesetz festgelegten Verfahren die Frage nach der möglichen Vollstreckung von Beschlüssen zwischenstaatlicher Organe entscheiden, die auf der Grundlage von Bestimmungen völkerrechtlicher Verträge der Russischen Föderation in einer Auslegung gefasst wurden, die der Verfassung der Russischen Föderation widerspricht.

Es ist daher anzunehmen, dass dieser Mechanismus hauptsächlich zu politischen Zwecken Anwendung finden wird, ohne wesentlichen Einfluss auf die Wirtschaft und insbesondere die Tätigkeit ausländischer Investoren auf dem russischen Markt zu nehmen. Hintergrund dieser Annahme ist der Umstand, dass Russland schon seit fast 30 Jahren fester Bestandteil des internationalen Warenverkehrs auf dem Markt ist und dessen Prinzipien anerkennt (insbesondere die Unantastbarkeit des Privateigentums, die unternehmerische Freiheit und Arbeitsfreiheit, die Unzulässigkeit der Monopolbildung und des unlauteren Wettbewerbs u. ä.). Diese Grundsätze sind außerdem ausdrücklich in der russischen Verfassung verankert[3], sodass schwer vorstellbar ist, dass der Beschluss eines internationalen Organs, der unter Berücksichtigung dieser Grundsätze gefasst wurde, der Verfassung der Russischen widersprechen könnte, in der diese Grundsätze ebenfalls festgelegt sind. Nicht auszuschließen ist allerdings ein möglicher Missbrauch (unter anderem durch die politische Lage diktiert) bei der Anwendung des oben beschriebenen Mechanismus in der Praxis.

[1] Verordnung des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation Nr. 21-P vom 14.07.2015.

[2] Vgl. Föderales Verfassungsgesetz Nr. 7-FKS vom 14.12.2015, durch das entsprechende Änderungen am Föderalen Verfassungsgesetz Nr. 1-FKS vom 21.07.1994 „Über das Verfassungsgericht der Russischen Föderation“ vorgenommen wurden.

[3] Vgl. Art. 34-37 der Verfassung der Russischen Föderation.

Taras Derkatsch, Ph.D., Senior Associate

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