Das Projekt der Gasleitung Nord Stream 2 ist derzeit ein viel besprochenes Schauspiel auf den politischen Bühnen Europas. Die Hauptfiguren sind das russische Unternehmen Gazprom, die deutsche Bundesregierung, die Europäische Kommission, Polen und die Ukraine. Aber mit den neuen US-Sanktionen gegen Russland betrat Amerika die Bühne als neue Hauptfigur. Warum eine Gasleitung so viele Emotionen und Streitereien verursachen kann, erfahren Sie in diesem Artikel.
Zuerst ein paar Worte über die technischen Daten und Teilnehmer am Projekt. Nord Stream 2 ist, was Streckenlegung und Kapazität angeht, beinahe identisch mit der ersten Pipeline: aus dem russischen Ust-Luga zum deutschen Greifswald durch die Ostsee kommend besteht sie aus zwei Rohrleitungen mit einer Gesamtkapazität von 55 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr. Die Teilnehmer sind die Unternehmen Gazprom, Uniper SE (Deutschland), Wintershall (Deutschland), Royal Dutch Shell (Großbritannien und die Niederlande), OMV AG (Österreich) und Engie S. A. (Frankreich).
Ein wichtiges Ziel der Gasleitung besteht in der Vermeidung des Transports durch Transitländer, in denen Krisen entstehen können. Erinnern Sie sich daran, welche Probleme die europäischen Staaten bekommen haben, als Russland 2006 und 2009 den Transit durch die Ukraine gesperrt hat? Und die Konflikte zwischen den Ländern waren damals nicht so groß wie sie es seit 2014 heutzutage sind.
Das Projekt Nord Stream ist eine Alternative für den Haupttransitweg von russischem Erdgas nach Europa – das ukrainische Gasleitungssystem. Die politische Krise in der Ukraine hat das Verhältnis der Europäischen Union gegenüber beiden Ländern verändert. Obwohl die Europäische Kommission wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland verhängt hat, gab es keine Sanktionen gegen den Gasbereich. Außerdem ist die Bedeutung von Nord Stream gestiegen: früher haben Experten geäußert, dass die Gasleitung nicht voll ausgelastet sei, aber jetzt liegt der Auslastungsgrad der Meerespipeline und der Landabzweigung OPAL (Ostsee-Pipeline-Anbindungsleitung) bei 100 Prozent. Deshalb wurde der Bau von Nord Stream 2 nötig.
OPAL konnte jahrelang nur zu 50 Prozent ausgelastet werden. Das Dritte Energiepaket der EU schreibt vor, dass Pipelines in EU-Ländern nicht nur von einem Monopolisten benutzt werden dürfen. So konnte Gazprom als Exklusivlieferant nur 50 Prozent der Kapazität von OPAL nutzen. Eine kuriose Situation, die von der Europäischen Kommission Ende 2016 beendet wurde, da man OPAL aus dem Wirkungsbereich des Gesetzes herausnahm. Dank eines Auktionssystems mit Kapazitäten kann Gazprom nun OPAL vollständig auslasten. Für Berlin ist diese Situation sehr vorteilhaft: die Steigerung der Lieferung von russischem Erdgas durch Deutschland kann das Land in ein Haupttransitland verwandeln.
Das Projekt hat dementsprechend viele Gegner – Polen, die Ukraine, die baltischen Staaten und ein paar osteuropäische Länder. Osteuropa fürchtet, dass wegen der Verlängerung der Transitleitung der Preis des Gases für sie steigen wird. Polen und Ukraine wollen die Einnahmen für den Transit nicht verlieren. Polen hat sogar versucht, die Entscheidung der Europäischen Kommission über OPAL anzufechten. Dieser Initiative schloss sich die Ukraine an. Aber um ehrlich zu sein, braucht sich Polen keine Sorgen machen: Jamal-Europa (die Gasleitung, die russisches Erdgas aus Sibirien durch Weißrussland und Polen nach Europa liefert) wird bestimmt in Betrieb bleiben, denn Russland besitzt auch den weißrussischen Teil der Gasleitung, wodurch die Transitkosten für Russland günstig bleiben.
Insgesamt gibt es drei Hauptargumente der Gegner: Nord Stream 2 wird die Europäische Energieunion (noch nicht aufgebaut) blockieren; der Europäische Gasmarkt wird von russisch-deutschen Lieferungen monopolisiert; wegen der Kürzung oder sogar der Einstellung von Einnahmen aus Transitzahlungen wird sich die Situation in der Ukraine weiter destabilisieren.
Aber die Vorteile von Nord Stream 2 wiegen für Europa im Großen und Ganzen schwerer, als die Unzufriedenheit von einigen Mitgliedern der EU und hypothetische Drohungen der Europäischen Union. Erstens, Gas wird weniger kosten, weil ein nicht-europäischer Staat aus dem Liefersystem abgekoppelt wird. Alexeij Miller äußerte, der Transit durch die Ukraine koste um zwanzig Prozent mehr als Lieferungen durch Nord Stream. Zweitens, um weiter ukrainisches Territorium für den Gastransit benutzen zu können, müsste die EU die notwendige Restaurierung des Gasleitungssystems finanzieren, weil die ukrainische Regierung dafür zu wenig Geld hat. Drittens, ist die ukrainische Transitroute insgesamt sehr instabil und stets gefährdet. Sogar europäische Investitionen sind nicht in der Lage, den Bürgerkrieg im Land zu stoppen, der zur vervollständigen Unterbrechung des Transits führen kann. Ukrainische Aktivisten haben bereits die Masten einer Stromleitung gesprengt, um die Stromzufuhr auf die Krim zu stoppen. Nichts wird verhindern können, dass derart politisierte Gruppierungen die für die Versorgung Europas so wichtige Gaspipeline sprengen können.
Entscheidender Faktor im Schicksal der Gasleitung ist die Position der deutschen Regierung. Angela Merkel betonte, Nord Stream 2 sei ein rein privat wirtschaftliches Projekt und falle dadurch aus dem Rahmen der politischen Debatte. Begründet ist diese Einstellung mit den wirtschaftlichen und politischen Vorteilen für Berlin. Nach dem Stopp von South Stream im Zuge der Krim-Krise ist Nord Stream 2 jetzt die einzige Alternative zum Transit durch die Ukraine – sowohl für Deutschland als auch für die ganze EU. Die neue Pipeline durch die Ostsee wird aus Deutschland einen pan-europäischen Gas-Hub machen und den deutschen Einfluss auf europäische Politik verstärken.
Ende März 2017 beantwortete die Europäische Kommission Fragen aus Dänemark und Schweden über die Genehmigungsgrundlagen des Baus von Nord Stream 2. Nach der Meinung Brüssels gibt es dafür keine gesetzlichen Hindernisse. So schien die Zukunft des Projekts trotz ein Paar Gegenstimmen gesichert. Bis zu dieser Woche – am 2. August unterschrieb Donald Trump den Gesetzentwurf mit neuen Sanktionen gegen Russland.
Das Dokument sieht Beschränkungen bei der Bereitstellung von Technologien und Dienstleistungen für den Bau von Öl- und Gasleitungen vor. So will der US-Kongress Russlands Fähigkeit zum Aufbau neuer Infrastruktur für den Export von Energieressourcen einschränken. Die Sanktionen gefährden die Umsetzung von Nord Stream 2, Turkish Stream und anderen Projekten. Washington droht nicht nur den europäischen Partnern von Gazprom – Wintershall, Shell und OMV – sondern auch der Schweizer Firma Allseas, die einen Vertrag für die Rohrverlegung erhalten hat. Das Gesetz sieht hohe Geldstrafen für alle Unternehmen vor, die Gazprom bei der Realisierung von Nord Stream 2 helfen.
Es ist bemerkenswert, dass der Kongress die Formulierung übernahm/mit aufnahm, wonach die Vereinigten Staaten mit den Sanktionen Europa helfen, sich von russischer Energiedominanz zu befreien. Schließlich seien die Europäer selbst seit vielen Jahren im Gespräch über die Bedeutung der Energiediversifizierung, argumentieren US-Politiker. Sie könnten also nicht gegen Sanktionen sein, die ihre Energiesicherheit erhöhen.
Aber die EU ist gespalten. Polen zum Beispiel unterstützt die neuen Sanktionen, während das deutsche Außenministerium bemängelte, die USA hätten sich zuerst mit ihren europäischen Partnern beraten sollen. Jean-Claude Juncker, der Vorsitzende der Europäischen Kommission, formulierte es schärfer. Die EU habe das Recht auf Gegenmaßnahmen, falls wegen der Sanktionen wirtschaftliche Interessen von europäischen Unternehmen verletzt werden. „Wir müssen unsere Interessen sogar vor den Vereinigten Staaten schützen. Und wir sind bereit, es zu tun“, heißt es in einer Erklärung.
Wie die EU reagieren wird, erfahren wir wahrscheinlich erst im September, da die Europäische Kommission erstmal in Urlaub geht. Aber, zweifellos, werden uns die neuen Sanktionen zeigen, was für die EU wichtiger ist: günstiger und stabile Gaslieferungen oder die transatlantischen Beziehungen, die seit dem Amtsantritt von Donald Trump ins Schlingern geraten sind.
[Anastasia Petrowa/russland.NEWS]
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