Nord Stream 2: Inbetriebnahme am 1. Oktober wahrscheinlich oder eher unrealistisch?

Nord Stream 2: Inbetriebnahme am 1. Oktober wahrscheinlich oder eher unrealistisch?

Der Termin für erste Gaslieferungen über Nord Stream 2 nach Deutschland rückt im Kalender immer näher: Vom Datum Jahresende der Gazprom-Tochter Nord Stream 2 AG über den Beginn der Heizperiode von Gazprom-Chef Alexei Miller und nun zum 1. Oktober, wie

Bloomberg unter Berufung auf Quellen berichtete, die mit den Plänen von Gazprom vertraut sind, aber nicht namentlich in Erscheinung treten wollen.

Am 6. September verkündete die Nord Stream 2 AG die Verlegung und Verschweißung des letzten Rohres. Gestern gab Gazprom während einer morgendlichen Betriebsversammlung bekannt, „der Bau der Nord Stream 2-Gaspipeline wurde heute Morgen um 8.45 Uhr Moskauer Zeit vollständig abgeschlossen“.

Der Bauabschluss bedeutet nicht, dass Russland sofort mit Gaslieferungen über die neue Pipeline an das europäische Gastransportsystem beginnen kann. Nord Stream 2 muss noch zwei gravierende Hindernisse in Form von Zertifizierungsverfahren überwinden, die viel Zeit werden in Anspruch nehmen.  Der Zeitpunkt des Beginns der Inbetriebnahme hängt primär von der Entscheidung der deutschen Regulierungsbehörde ab, die derzeit den Antrag von Nord Stream 2 auf den Status eines „unabhängigen Betreibers des Übertragungssystems“ prüft.

Die europäische Gasrichtlinie besagt, dass der Gasproduzent nicht gleichzeitig auch der Betreiber der Pipeline sein darf, durch die das Gas transportiert wird. Dies wäre bei Nord Stream 2 aber der Fall: Das russische Unternehmen Gazprom produziert das Gas und betreibt über seine 100-prozentige Tochter Nord Stream 2 AG die Pipeline. Den Antrag auf eine Ausnahmegenehmigung hat die Bundesnetzagentur bereits abgelehnt. Dagegen hat die Nord Stream 2 AG vor dem Düsseldorfer Landgericht geklagt.

Im Falle einer Ausnahmegenehmigung wird die EU diese prüfen. Wird keine Ausnahmegenehmigung erteilt, dann müsste die Pipeline auch anderen Anbietern zur Verfügung gestellt werden. Dies hätte gravierende wirtschaftliche Folgen für Gazprom. Deshalb laufen aktuell auch Rechtsmittelverfahren der Nord Stream 2 AG am Europäischen Gerichtshof, ob die europäische Gasrichtlinie überhaupt wirksam ist.

Nach Beginn des Zertifizierungsverfahrens hat die deutsche Regulierungsbehörde vier Monate Zeit, um einen Entscheidungsentwurf zu erstellen. Damit hat das Verfahren selbst noch nicht begonnen, da es „erst mit dem vollständigen Eingang der Unterlagen beginnt, was noch nicht geschehen ist“, so der Pressedienst der Bundesnetzagentur.

Der Entscheidungsentwurf wird dann der Europäischen Kommission zur Prüfung vorgelegt, wozu die Beamten in Brüssel zwei Monate Zeit haben.  Zusätzlich zu den üblichen zwei Monaten kann die Europäische Kommission weitere zwei Monate in Anspruch nehmen, wenn sie weitere Informationen benötigt. Und nachdem die Bundesnetzagentur die Stellungnahme Brüssels erhalten hat, hat sie noch zwei Monate Zeit, um eine endgültige Entscheidung zu treffen. So kann der Zertifizierungsprozess acht bis zehn Monate dauern – beginnend nachdem die Nord Stream 2 AG alle erforderlichen Unterlagen eingereicht hat. Wann dies geschehen wird, ist noch offen.

Die Zulassung von Nord Stream 2 endet aber nicht mit der Zertifizierung als Betreiber. Um die Gaspipeline in Betrieb zu nehmen, muss sie auch eine technische Zertifizierung durchlaufen. Während dieses Verfahrens wird überprüft, ob die Rohrleitung alle Konstruktionsunterlagen und technischen Anforderungen auf Dichtigkeit erfüllt. Diese Zertifizierung wird von unabhängigen Sachverständigen durchgeführt, die vom Bergamt der Stadt Stralsund bestellt werden. Und sie wird entscheiden, ob die Inbetriebnahme genehmigt wird.

In dieser Angelegenheit war Nord Stream 2 bereits auf Probleme gestoßen. Wegen drohender Sanktionen aus den USA Ende letzten Jahres hat das norwegische Unternehmen DNV-GL, das die technische Zertifizierung vorbereitete, die Zusammenarbeit mit der Nord Stream 2 AG eingestellt. Wer an deren Stelle die Zertifizierung nach internationalen Standards durchführen wird, ist bis heute nicht bekannt. Im Juli berichtete das Handelsblatt jedoch, dass die Nord Stream 2 AG Ingenieure und andere Spezialisten rekrutiert habe, die zuvor für DNV-GL gearbeitet hatten.

Zusätzlich gibt es aus Deutschland und der Ukraine politische Widerstände gegen Nord Stream 2. Sollte es nach den Bundestagswahlen am 26. September eine Regierung unter Beteiligung von Bündnis 90/Die Grünen geben, ist eine Inbetriebnahme von Nord Stream 2 fraglich, denn die Grünen haben sich eindeutig gegen das Projekt positioniert.

Die Umweltschutzorganisationen Deutsche Umwelthilfe (DUH) und der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) gehen weiterhin gerichtlich gegen Nord Stream 2 vor. Sie klagen gegen verschiedene Genehmigungsbehörden und argumentieren, dass die Auswirkungen der Pipeline auf das Klima nicht genügend geprüft worden seien.

Und die Ukraine will das Projekt sowohl auf politischer als auch auf rechtlicher Ebene bis zum Ende zu bekämpfen. Laut Naftogaz verletzt die Nord Stream 2 AG die europäische Gesetzgebung in Sachen Entflechtung. Für die technische Zertifizierung will Kiew die Tatsache nutzen, dass die Pipeline nach dem Rückzug von Allseas vom russischen Schiff Fortuna fertiggestellt wurde. Allseas verwendete ein automatisches Positionierungssystem, die Fortuna aber nur ein Ankersystem, was gegen die Erfüllung der Bedingungen der Projektdokumentation verstößt. Naftogaz glaubt, dass dies die Stressresistenz der Pipeline gefährdet hat, und möchte versuchen, den Betriebsdruck, also die Durchsatzkapazität, zu begrenzen.

Gazprom hatte im August angekündigt, dieses Jahr sollen noch 5,6 Milliarden Kubikmeter Gas durch die Pipeline nach Europa strömen. In den ab dem 1. Oktober verbleibenden 92 Tagen wären das über 6 Millionen Kubikmeter täglich. Gemessen an den täglich 200 Millionen Kubikmetern Gas, die einst bei der avisierten Jahreskapazität von 55 Milliarden Kubikmeter durch Nord Stream 2 fließen sollen, ein nicht unmögliches Unterfangen.

Gemessen an den Widerständen, Problemen und Unklarheiten erscheint die von Bloomberg aus Moskau kolportierte Inbetriebnahme am 1. Oktober als reines Wunschdenken.

[hrsg/russland.NEWS]

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