„Die Ereignisse in Russland und der Ukraine werden für die Weltwirtschaft schwerwiegende Folgen haben. Die Frage ist nur, wie ernst es ist“, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugman, Nobelpreisträger und Experte für internationalen Handel, in seiner Kolumne in der New York Times. Krugmans vorsichtige Antwort: Der Schock wird schmerzhaft sein, aber nicht katastrophal. Der derzeitige Schock für die Weltwirtschaft wird nicht mit dem Ölschock der siebziger Jahre vergleichbar sein. Wie vor einem halben Jahrhundert werden jedoch die Rohstoffpreise – diesmal sowohl für Energie als auch für Nahrungsmittel – die Hauptursache für den Schock sein.
Die europäischen Sanktionen haben noch keine Auswirkungen auf die Energielieferungen aus Russland, und das US-Embargo ist nicht allzu empfindlich. Dennoch haben die Märkte bereits so reagiert, als ob der Fluss russischer Energieressourcen bald stoppen würde, entweder aufgrund von Sanktionsbeschränkungen oder aufgrund so genannter „Selbstsanktionen“ europäischer und US-amerikanischer Energieunternehmen, die ihre Rohstoffkäufe aus Russland reduzieren (wie Shell oder Eni). Infolgedessen liegen die inflationsbereinigten Ölpreise nahe an den Werten der iranischen Revolution von 1979, betont Krugman.
Fast die Hälfte der Exportrohstoffe kann wegen der Sanktionen nicht exportiert werden.
Ein solcher Preisanstieg ist verwunderlich, räumt er ein: Auf Russland entfallen 11 Prozent der Weltproduktion, deutlich weniger als der Marktanteil des Persischen Golfs zur Zeit des Ölschocks in den frühen siebziger Jahren. Außerdem könnte Russland sein Öl möglicherweise über Zwischenhändler verkaufen, und die Weltwirtschaft ist weit weniger abhängig vom Öl als noch vor einem halben Jahrhundert. Die Folgen für die Vereinigten Staaten könnten eher politischer Natur sein, argumentiert Krugman, der die Demokraten unterstützt: Die Republikaner würden nicht zögern, die Regierung von Präsident Joe Biden für die hohen Benzinpreise verantwortlich zu machen.
Der Anstieg der Weizenpreise wird für die Inflation und die Einkommen der Menschen in den Industrieländern zwar schmerzhaft, aber erträglich sein, während er für die Schwellenländer und die Länder mit niedrigem Einkommen ein ernsthaftes Problem darstellen wird.
Bedrohungen für China
Auch China wird von dem „Ukraine-Schock“ betroffen sein, warnt die Financial Times in einem großen Bericht. Erstens könnte die Wirtschaft des Landes durch hohe Ölpreise hart getroffen werden. China ist in hohem Maße von Energieimporten abhängig: Es importiert 70 Prozent seines Erdöls (es ist der weltweit größte Nettoimporteur von Erdöl) und 40 Prozent seines Erdgases.
Auch die rapide steigenden Lebensmittelpreise werden ein Problem darstellen. Die Agrarrohstoffpreise im Lande steigen entsprechend dem weltweiten Trend. Der chinesische Präsident Xi Jinping hat bereits einen ausführlichen Vortrag zur Lebensmittelsicherheit gehalten und dabei betont, dass sich das Land nicht auf die internationalen Märkte verlassen kann und dass chinesische Lebensmittel vorwiegend auf chinesischen Tellern landen müssen. Der Anstieg der weltweiten Lebensmittelpreise könnte auch mit einer schlechten Ernte zusammenfallen: Aufgrund des regnerischen Wetters sagte der Landwirtschaftsminister des Landes, Tang Renyang, dass die Winterernte „die schlechteste aller Zeiten“ sein könnte.
All dies könnte einen Inflationsschub auslösen, was ein weiteres Hindernis für die ohnehin schon schwache wirtschaftliche Erholung Chinas darstellen würde.
Ein weiteres Problem ist die Unterbrechung der Lieferketten, die sowohl durch Militäraktionen als auch durch Sanktionen verursacht wird. Der FT zufolge sehen sich chinesische Unternehmen, die mit russischen Firmen zusammenarbeiten, bereits dem Druck ihrer Kollegen in Europa und den USA ausgesetzt, die Beziehungen zu Russland zu beenden. Der Druck könnte auch länderübergreifend wirken: Die Spannungen zwischen China und den USA haben auch nach dem Ausscheiden von Donald Trump aus dem Amt nicht nachgelassen, und auch in Europa wächst die Unzufriedenheit mit Chinas Haltung gegenüber Russland. Gleichzeitig braucht die chinesische Wirtschaft Märkte und Investitionen aus westlichen Ländern, und ein geopolitisches Abdriften in Richtung Russland ist unter den derzeitigen Bedingungen wirtschaftlich nicht zu rechtfertigen.
Armut und Hunger in armen Ländern
Die Auswirkungen der Ereignisse in der Ukraine könnten für die einkommensschwächsten Entwicklungsländer besonders schwerwiegend sein, meint Jayati Ghosh, geschäftsführende Sekretärin von International Development Economics Associates und Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der University of Massachusetts in Amherst. Die westlichen Medien schenken dem Problem der hohen Energiepreise in Europa und den USA mehr Aufmerksamkeit, aber die meisten Energie importierenden Länder sind wesentlich ärmer. Viele konnten sich die zusätzlichen Kosten für die Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen nicht leisten und erholen sich daher viel langsamer als die entwickelten Volkswirtschaften. Ein sprunghafter Anstieg der Kohlenwasserstoffpreise würde ihre Zahlungsbilanz belasten und die Inflation beschleunigen.
Der derzeitige Preisanstieg bei Lebensmitteln wird eine ähnliche Herausforderung darstellen. Aber es besteht eine noch größere Gefahr: Spekulatives Kapital, das aus den risikoreicheren Schwellenländern abfließt, wird nach neuen Anlagen suchen, und wenn es in die Lebensmittelmärkte fließt, könnte sich die spekulativ geförderte Lebensmittelkrise von 2007 und 2008 wiederholen. Damals stieg die Zahl der Hungernden rasant an und betraf Hunderte von Millionen Menschen in den Entwicklungsländern, erinnert sich Ghosh.
Während das Angebot an Lebensmitteln damals nicht zurückging und die Preiserhöhungen spekulativer Natur waren, haben sich die Preise jetzt aufgrund der verringerten Lieferungen aus der Ukraine infolge der ….. erhöht. Ghosh fordert die internationalen Organisationen auf, Maßnahmen zu ergreifen, um den armen Ländern Finanzmittel zur Verfügung zu stellen und Regelungen einzuführen, die Spekulationen auf dem Lebensmittelmarkt verhindern. Andernfalls könnten die Folgen des „Ukraine-Schocks“ für eine große Zahl von Menschen weit über die Ukraine und Russland hinaus äußerst schwerwiegend und lang anhaltend sein.
[hrsg/russland.NEWS]
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