Jaroslaw Kusminow, Rektor der russischen Hochschule für Wirtschaft (HSE), erklärte, dass der Mangel an staatlicher Unterstützung viele Mitglieder der russischen Mittelschicht während der Covid-19-Pandemie arm gemacht habe. Seiner Meinung nach ist es schlicht unmöglich, das Problem der sinkenden Einkommen der Bevölkerung allein durch die „Unterstützung der Schwächsten“ zu lösen.
Der Wissenschaftler ist sich sicher, dass der der Absturz der Mittelschicht in die Kategorie der Armen „politisch explosiv“ ist. Bislang sieht der Experte keine politischen Konsequenzen dieses Prozesses – „die jüngsten heftigen politischen Auseinandersetzungen sind höchstwahrscheinlich keine Reaktion darauf“, doch „die Antwort steht noch aus, und es muss etwas dagegen getan werden“, so der HSE-Rektor. Seiner Meinung nach können die sinkenden Einkommen der Mittelschicht auch dazu führen, dass in Russland kein signifikanter Anstieg des Wirtschaftswachstums zu verzeichnen und der Wert „innerhalb von 2 Prozent“ bleiben wird.
Die Entscheidung des Staates, die Produktion und die „Schwächsten“ zu unterstützen, während die Mittelschicht, die „ihre Lebensgrundlagen verloren hat“, nicht unterstützt wird, bezeichnete Kusminow in einem Interview mit RBK als „Fehler unserer Politik“.
Der Ökonom wies darauf hin, dass „alle Innovationen im Konsum und jede Innovation in der Wirtschaft von der Mittelschicht getragen werden, also von den Menschen, die über Auswahlmöglichkeiten verfügen“. Die zentrale Herausforderung, der sich Russland nach Angaben des HSE-Rektors jetzt stellen muss, ist „der anhaltende Rückgang der Realeinkommen der Bevölkerung, der mit traditionellen Methoden wie die Unterstützung der Schwächsten nicht zu bewältigen sei“.
Ende September letzten Jahres schätzten die Experten der Higher School of Economics, dass 6,1 Prozent der arbeitenden Mittelschicht aufgrund der Coronakrise und der Verringerung des Arbeitseinkommens aufgrund von Leerlaufzeiten arm geworden sind. Nach Berechnungen der Forscher verloren während der Pandemie 8,7 Prozent der Mittelschicht ihren Arbeitsplatz, 3,9 Prozent blieben in der Leerlaufzeit und hielten ihr Arbeitseinkommen auf einem Niveau, das nicht über dem Mindestlohn von 12.130 Rubel lag – vergleichsweise 135 Euro. Insgesamt gehörten laut der HSE 24 Prozent der erwerbstätigen Russen vor Beginn der Krise zur Mittelschicht; Menschen mit einem Einkommen, das nicht niedriger ist als das 1,25-fache des regionalen Durchschnitteinkommens, Menschen mit höherer Bildung oder solche, die für die Regierung arbeiten, höhere und mittlere Manager, Spezialisten mit höheren und mittleren Qualifikationen, Büroangestellte oder Angehörige des Militärs.
Ende 2020 betrug laut Rosstat die Armutsquote in Russland (der Anteil der Menschen, deren Einkommen unter dem Existenzminimum des gesamten Landes liegt) 12,1 Prozent (17,8 Millionen Menschen). Dies ist der niedrigste Wert dieses Indikators seit 2014.
Im Februar hatte Kremlsprecher Dmitri Peskow eingeräumt, dass Russland Probleme mit der Überwindung der Armut hat, aber die Behörden „werden nicht aufgeben. Im März veröffentlichte das Marktforschungsunternehmen NielsenIQ eine Studie, wonach das Einkommen der Russen während der Pandemie stärker sank als der weltweite Durchschnitt. Peskow widersprach dieser Information. Ihm zufolge hat der Kampf gegen die Armut bei dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und der Regierung „die absolute Priorität“.
[hrsg/russland.NEWS]
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