Gleiche Chancen? Behinderte Menschen auf dem russischen ArbeitsmarktEkaterina Morozova, Leiterin der Personalabteilung Rödl & Partner Russland

Gleiche Chancen? Behinderte Menschen auf dem russischen Arbeitsmarkt

Die Herausforderung, Behinderte besser in die Arbeitswelt zu integrieren, besteht in allen entwickelten Ländern, denn dies gehört zu den Aufgaben eines Sozialstaates. Einige Länder schaffen steuerliche Präferenzen für Arbeitgeber, die Behinderte beschäftigen, andere verpflichten sie mit Beschäftigungsquoten, eine bestimmte Anzahl von Arbeitsplätzen für behinderte Mitarbeiter zu reservieren. Die Schaffung der physischen Bedingungen für Rollstuhlfahrer, die ihnen helfen, mobiler zu werden, oder die Unterstützung von blinden Menschen durch Tonsignale, um mehr Sicherheit auf der Straße zu erreichen, gehören in den westlichen Ländern zum Standard und stellen ein Musterverhalten für die Länder dar, die noch nicht soweit sind.

Die Anzahl der Beschäftigten mit Behinderung ist jedoch erstaunlicherweise ziemlich niedrig. Wenn man sich die statistischen Daten in Deutschland anschaut, waren nur 30 Prozent der Menschen mit Behinderung 2017 in den Arbeitsmarkt integriert. In Russland sind es gemäß Aussage von Präsident Putin vom November 2020 knapp 25 Prozent.

Wo liegt das Problem? Warum kann nicht eine größere Anzahl von behinderten Personen ein Teil der modernen Arbeitswelt werden? Liegt es eventuell daran, dass die Behinderten sich unter gesunden Menschen unwohl fühlen oder gar schikaniert werden? Oder vielleicht an der Art der Behinderung, welche die Vielfalt der auszuübenden Berufe mehr oder weniger einschränkt? Haben behinderte Personen tatsächlich die gleichen Chancen, eine hochwertige Ausbildung zu genießen, wie gesunde Personen? Das sind sehr empfindliche Fragen, aber man sollte sie sich stellen, um den richtigen Fokus zu setzen und, wie man sagt, Nägel mit Köpfen zu machen.

Die Unternehmen sind offensichtlich nicht imstande, alle Probleme der Personen mit Behinderung durch Schaffung der passenden Arbeitsbedingungen zu lösen. Aber sie können ihren Beitrag leisten, indem sie die grundlegenden organisatorischen Anforderungen erfüllen, um normale Arbeitsbedingungen für Behinderte zu schaffen, und auf ihre Bedürfnisse nicht formal, sondern bedacht eingehen.

In Russland ist schon seit langem gesetzlich festgelegt, welche Garantien und Vergünstigungen für behinderte Arbeitnehmer vorgesehen sind, und die Arbeitgeber werden durch Festsetzung von Quoten (einschließlich Bußgeldern bei Nichteinhaltung) dazu verpflichtet, Behinderte einzustellen. Jedoch würde jeder sozial verantwortungsvolle Arbeitgeber einen Behinderten mit entsprechenden Qualifikationen ohnehin gern einstellen, und dementsprechend alle dazu erforderlichen rechtlichen und organisatorischen Bedingungen schaffen.

Denn die Anforderungen an den Arbeitgeber sind nicht sehr schwer zu erfüllen. Der Grad der Ausprägung der Einschränkung der möglichen Arbeitstätigkeit und die damit verbundenen Einschränkungen bzw. Anforderungen an den Arbeitsplatz sind im individuellen Reha-Programm für Behinderte (IPRA) aufgeführt.

Die angemessene Anpassung der Arbeitsumgebung für behinderte Mitarbeiter kann zum Beispiel in der Anpassung der Büroräumlichkeiten, der Ausrüstung des Arbeitsplatzes an die Bedürfnisse des Behinderten bestehen, oder in der Bereitstellung der für die Arbeit erforderlichen Informationen in übersichtlicher Form oder der Zurverfügungstellung eines Mentors oder der Gewährung von flexiblen Arbeitszeiten. In manchen Fällen ist überhaupt keine Anpassung notwendig.

Die Besonderheiten der Arbeit der Behinderten bzw. die zusätzlichen Garantien für sie beschränken sich auf:

– verkürzte Arbeitszeit für Behinderte der I. und II. Gruppe. Diese darf höchstens 35 Stunden pro Woche betragen. Für Behinderte der III. Gruppe gilt Standardarbeitszeit von 40 Stunden pro Woche.

– der Jahresurlaub muss mindestens 30 Kalendertage betragen, nur zwei Tage mehr als im Normalfall;

– dem Arbeitnehmer muss auf seinen Antrag unbezahlter Urlaub von bis zu 60 Kalendertagen pro Jahr gewährt werden. Das erfordert Planung, bedeutet aber keine zusätzlichen Kosten für den Arbeitgeber;

– die Dauer der Arbeit pro Tag (Schicht) wird für den Arbeitnehmer in Übereinstimmung mit seinem medizinischen Gutachten festgestellt;

– für Behinderte der I. und II. Gruppe kann kein nicht normierter Arbeitstag festgelegt werden;

– Behinderte können zur Arbeit in Nachtstunden, am Wochenende, an arbeitsfreien Feiertagen und zu Überstunden ausschließlich mit ihrer schriftlichen Genehmigung und unter der Bedingung herangezogen werden, dass die Arbeiten für sie wegen des Gesundheitszustands nicht kontraindiziert sind.

Also es gibt nichts, was auch für einen Menschen ohne Einschränkungen nicht zutreffen würde, der seinen Familienpflichten nachgehen muss bzw. seine Work-Life-Balance wahren will und dabei die Unterstützung des Arbeitgebers hat.

Dies sind die grundlegenden rechtlichen und organisatorischen Parameter der Einstellung von Behinderten in Russland. Natürlich kann man auch mehr machen, um die behinderten Kollegen im Kollektiv zu inkludieren.

Dies ist jedoch ein zweigleisiger Prozess. Ohne den Wunsch des behinderten Mitarbeiters, Teil des Teams zu werden, ohne seine Motivation, Karriereziele zu realisieren, kann er nicht viel erreichen. Leider machen sich die Organisationen in Russland, die Behinderten bei der Arbeitssuche helfen sollen, es sich oft zu leicht. Sie fragen hauptsächlich nach Geldspenden. Das kann nicht das Ziel einer solchen Organisation sein.

Wir alle treffen selbst die Wahl, ein Opfer zu sein oder unser Leben in eigene Hände zu nehmen. Natürlich sind Menschen mit Behinderung mehr herausgefordert als andere Menschen. Es gibt auch klarerweise solche, die komplett auf andere angewiesen sind, um zu überleben. Um diese schwerstbehinderten Personen geht es hier nicht. Es geht um arbeitsfähige Personen mit Behinderung, die imstande sind, sich selbst zu helfen und zu bestimmen, ob und inwieweit ihnen geholfen werden kann, sich in der Arbeitswelt zu etablieren.

Ekaterina Morozova, Leiterin der Personalabteilung Rödl & Partner Russland

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