„Ein Medikament ist kein Hamburger“: Große Pharmakonzerne verlassen Russland nicht

„Ein Medikament ist kein Hamburger“: Große Pharmakonzerne verlassen Russland nicht

Während sehr viele ausländischen Unternehmen ihre Tätigkeit in Russland einstellen oder das Land ganz verlassen, wollen viele US-Pharmaunternehmen auf dem russischen Markt bleiben, berichtet der Philadelphia Inquirer.  

Mindestens ein Pharmariese – das britische Unternehmen GlaxoSmithKline – hat offen angekündigt, dass es sich weigert, in Russland zu werben. Zwar habe „jeder ein Recht auf Gesundheitsversorgung“ und die Produkte sollen „soweit wie möglich“ nach Russland“   geliefert werden, eine direkte Unterstützung „der russischen Regierung und Armee“ sollte es aber nicht geben. Gleichzeitig laufen die von GSK in Russland begonnenen klinischen Studien weiter: Es werden aber keine neuen Teilnehmer rekrutiert und keine neuen Studien begonnen.

Auf einer kürzlich abgehaltenen Konferenz sagte Carolyn Litchfield, Finanzchefin von Merck, dass sich das Unternehmen nun darauf konzentriere, keinen einzigen Patienten zurückzuweisen. Deshalb wird Merck auch weiterhin seine Produkte liefern, auch für klinische Studien. Ihr zufolge sind sowohl Russland als auch die Ukraine wichtige Märkte, auf die zusammen 6 bis 7 Prozent der Aktivitäten des Unternehmens im Bereich der klinischen Studien entfallen.  

Johnson & Johnson hat auch die Teilnahme an klinischen Studien in Russland, der Ukraine und Belarus ausgesetzt. Joe Vock, CFO von J&J, hält es jedoch für unabdingbar, dass alle Wirtschaftssanktionen gegen Russland Ausnahmen für Produkte des Gesundheitswesens vorsehen. „Wenn unsere Medikamente nicht zu den Menschen gelangen, die sie dringend benötigen, werden diese Menschen einfach sterben oder Komplikationen erleiden“, sagte Vock.  

Der wichtigste Handelsverband der pharmazeutischen Industrie, PhRMA (Pharmaceutical Research and Manufacturers of America, gibt zu Protokoll, dass seine Mitglieder „eine entscheidende humanitäre Funktion erfüllen“.

Pfizer, Johnson & Johnson, Novartis und Abbott gehören zu den Pharmaunternehmen, die Medikamente in russischen Fabriken herstellen und sie unter russischen Markennamen oder als Markengenerika verkaufen. Der Chef von Pfizer, Albert Burla, hat bereits erklärt, dass das Unternehmen nicht mehr in Russland zu investieren gedenkt, aber es bricht auch nicht die Beziehungen zu Russland ab. Im vergangenen Jahr führte Pfizer in Russland klinische Versuche mit seinem antiviralen Medikament Paxlovid gegen Covid-19 durch. Bis zum 24. Februar wurden in Russland 3072 (in der Ukraine 503) klinische Studien begonnen.  

Die meisten pharmazeutischen Unternehmen versprechen der Ukraine heute öffentlich ihre Unterstützung und erklären, dass sie Medikamente nach Russland einführen müssen. So sagte Abbott der Ukraine humanitäre Hilfe in Höhe von 2 Millionen Dollar zu  

Gleichzeitig hat keines der großen Pharmaunternehmen oder Hersteller medizinischer Geräte bisher Pläne zur Schließung von Produktionsanlagen oder zur Einstellung des Vertriebs in Russland angekündigt. Die Haltung der Pharmaunternehmen ist auf Kritik gestoßen.

Jeffrey Sonnenfeld, Professor an der Yale School of Management, nennt die Entscheidung der Pharmaunternehmen, ihre Geschäfte mit Russland aus humanitären Gründen fortzusetzen, „bestenfalls eine Folge von Täuschung, eine gewohnheitsmäßige Manifestation von Zynismus, schlimmstenfalls einen offenen Betrug“. Er wies auch darauf hin, dass die Banken und IT-Unternehmen, die Russland verlassen haben, ebenfalls wichtige Dienstleistungen für die Bevölkerung erbringen: „Die Russen leiden unverdientermaßen – sie werden in diese tragische Lage gezwungen. Aber wenn wir ihnen das Leben weiterhin erträglich machen, werden wir das Regime weiterhin unterstützen … Das Ziel ist es, zu zeigen, dass Putin nicht alle Bereiche der Wirtschaft unter Kontrolle hat.“

Die vielleicht aufsehenerregendsten Äußerungen machte Arthur Kaplan, Professor für Bioethik an der New York University. In zwei Kolumnen bei Medscape, eine der wichtigsten Online-Plattformen für Angehörige der Gesundheitsberufe weltweit, forderte Kaplan die internationale Gemeinschaft in schärfster Form auf, jegliche Zusammenarbeit mit russischen Wissenschaftlern einzustellen.     

„Wir führen einen Krieg gegen Russland, um es wirtschaftlich zu strangulieren und gesellschaftlich zu isolieren. Wir müssen so viel Druck wie möglich auf Russland ausüben, damit es zu einem Schurkenstaat wird“, fordert Professor Kaplan. „Die Russen müssen nicht nur unter einem Mangel an Cheeseburgern oder trendigen Cafés leiden, sondern auch an Produkten, die direkt für ihr Leben und ihr Wohlbefinden verantwortlich sind.“

Wenn pharmazeutische Unternehmen lebensrettende Medikamente nach Russland liefern wollen, sollten sie dies nach Ansicht von Professor Kaplan besser unentgeltlich tun. Kaplans Kolumne wurde auch von Medscape-Nutzern außerhalb der Plattform scharf verurteilt, unter anderem in sozialen Netzwerken, die in Russland verboten sind.

Am 26. Februar unterzeichneten mehrere Leiter von Biotech-Unternehmen einen offenen Brief, in dem sie die Branche aufforderten, sich wirtschaftlich von Russland zu lösen“. Das Schreiben wurde von mehr als 800 Personen unterschrieben. Letzte Woche rief die ukrainische Regierung zum Boykott von 50 internationalen Unternehmen auf, die weiterhin mit Russland Geschäfte machen. Unter anderem wurden Pfizer und J&J auf die schwarze Liste gesetzt.  

Nell Minow, stellvertretender Vorsitzende der Anlageberatungsfirma ValueEdge Advisors, erinnert daran, dass Pharmaunternehmen in anderen globalen Konflikten anders behandelt wurden: „Es gibt einen Unterschied zwischen einem Hamburger und einem Medikament“. Sie hat keinen Zweifel daran, dass die Unternehmenschefs das Vorgehen Russlands verurteilen, sich aber „bis zum Schluss“ nicht aus dem Markt zurückziehen sollten.

[hrsg/russland.NEWS]

Kommentare