Alexander Rahr: „Nord Stream 2 wird umgesetzt“

Alexander Rahr: „Nord Stream 2 wird umgesetzt“

Der Politologe und Historiker Alexander Rahr ist überzeugt, dass die geplante Ostseepipeline Nord Stream 2 wichtig für die europäische Energiesicherheit ist. Warum sich die deutsche Bundesregierung der harschen Kritik aus den USA und Polen widersetzen sollte, erklärt der renommierte Osteuropa-Experte im Interview mit russland.NEWS.

Wieso setzt sich die deutsche Bundesregierung trotz internationaler Kritik für Nord Stream 2 ein?

Die Bundesregierung hat verstanden, wie wichtig die Gaswirtschaft für die Zukunft Europas ist. Deutschland ist ein Musterland bei der Energiewende, weg von fossilen Brennstoffen wie Öl und Kohle hin zu alternativen Energiequellen. Umso wichtiger ist Erdgas als Brückenbrennstoff auf dem Weg zu einer neuen Ära. Zudem hat Deutschland stets gute Erfahrungen mit Russland gemacht, auch zu Zeiten der Sowjetunion. Die erfolgreiche Ostpolitik ist der deutschen Wirtschaft ins Blut übergegangen. Viele Firmen sind seit Jahren in Russland tätig und vertreten ihre Interessen gegenüber der Bundesregierung. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Gasressourcen in Europa zur Neige gehen. Europa wird in Zukunft weniger Gas eigenständig fördern können. Deshalb muss der Import von Erdgasressourcen um jeden Preis gestärkt werden. Infrage kommen hier eigentlich nur Russland, Norwegen, die arabischen Länder und das Flüssiggas aus den Vereinigten Staaten.

Wäre US-Flüssiggas eine ernsthafte Alternative zu russischem Erdgas?

Das wird der Markt zeigen. Fakt ist aber, dass Europa immer mehr auf Gasimporte angewiesen ist. Russisches Pipelinegas bietet sich an, weil Russland in Gasmengen schwimmt und die Infrastruktur bereits existiert. US-Flüssiggas ist derzeit noch teuer, aber die Markttendenzen sind schwer vorherzusagen. Sobald sich die Infrastruktur verbessert und die Terminals ausgebaut werden, kann US-Flüssiggas in den nächsten 10 bis 15 Jahren durchaus in der Lage sein, russisches Gas zu diversifizieren.

Was sind derzeit die größten Bedrohungen für Nord Stream 2? 

Ich glaube, die größte Bedrohung ist Politik. Russisches Gas ist nützlich und preiswert. Auch die Energiesicherheit ist gewährleistet. Dass Russland den Gashahn zudrehen könnte, ist unwahrscheinlich. Russland unterbrach den Zufluss in der Vergangenheit zweimal, nachdem die Ukraine ihre Rechnungen nicht bezahlt hatte. Das sollte in einer Marktwirtschaft legitim sein. Trotzdem hat Kiew in den Jahren 2006 und 2009 den schwarzen Peter erfolgreich an Russland zugeschoben. Im Energiesektor wurde ein russisches Feindbild aufgebaut. Es gibt Länder, die Russland nicht in Europa sehen wollen. Diese Länder haben verstanden, dass die deutsch-russische Energiepartnerschaft eine Brücke zur Anbindung Russlands an Europa ist. Diese Kräfte befinden sich in Mittelosteuropa, aber auch in den USA. Sie wollen die deutsch-russische Annäherung zerstören. Für Washington spielen auch sicherheitspolitische Argumente eine Rolle: Der Energiesektor spült Geld in Russlands Staatskasse und somit auch in das russische Militär.

Rainer Seele, der Chef des österreichischen Energiekonzerns OMV, der Nord Stream 2 mitfinanziert, erklärte, die Debatte um Nord Stream 2 habe dem Wirtschaftsstandort Europa beträchtlichen Schaden zugefügt. Wie bewerten Sie diese Aussage?

Rainer Seele hat mit seiner Aussage völlig recht. Wir müssen auch die russische Perspektive sehen. Das Land ist unser Partner, es beliefert uns mit Milliarden Kubikmetern Gas im Jahr. Trotzdem stellen wir künstliche politische Barrieren in den Weg. Irgendwann wird sich die russische Wirtschaft zurecht die Frage stellen, ob der europäische Markt überhaupt noch russischen Interessen entspricht. Denn wenn mit Europa zu viele Risiken verbunden sind, werden sich die russischen Investoren zurückziehen. Russland hat mit Asien eine echte Alternative, das will Europa oft nicht wahrhaben. Russland steigt derzeit massiv in den LNG-Markt ein und will sein Flüssiggas in alle Teile der Welt liefern. Wenn Europa mit Gewalt auf russisches Erdgas verzichten will und sich von Amerika abhängig macht, schaut der Kontinent künftig buchstäblich in die Röhre. Herr Seele hat mit seiner Aussage den Finger direkt in die Wunde gelegt.

Welche Rolle spielt das Thema Energiesicherheit bei Nord Stream 2? Ist das Projekt ein Segen oder eine Gefahr für die Energieversorgung in Europa?

Mehr Gas, das Europa erreicht, ist immer gut für die Energieversorgungssicherheit. Und wie schon gesagt, Russland war immer ein sicherer Lieferant. Die Mär, dass Russland das Gas abschaltet und als Waffe verwendet, ist aus meiner Sicht absurd und nicht nachvollziehbar. Allein schon deshalb, weil die deutschen Gasbezugsquellen viel diversifizierter sind als im Kalten Krieg. Die Infrastruktur zur Aufnahme von Gas aus Nord, Süd, Ost und West ist zügig vorangetrieben worden. Aus heutiger Sicht ist der Faktor Erdgas noch sehr marginalisiert im gesamten Energiemix in Europa. Noch vertrauen wir mehr auf Kohle und Öl, auch alternative Energiequellen hatten eine diversifizierende Wirkung. Deshalb ist das Argument mit der Energiesicherheit fadenscheinig. Es ist ein vorgeschobenes Argument, um ein neues russischen Feindbild zu kreieren.

Halten Sie die Vorbehalte gegenüber Nord Stream 2 in Polen und im Baltikum für berechtigt?

Die Sowjetunion hat einen riesigen industriellen Energiekomplex geschaffen. Sie wollte ein Superenergielieferant für die gesamte Welt werden und hat dafür die nötige Infrastruktur gelegt. Doch dann sind der Warschauer Pakt und die Sowjetunion auseinandergebrochen. Plötzlich waren Länder wie Polen und die Ukraine im Besitz von Röhren und Transitwegen. In den 90er- und Nullerjahren hat Russland versucht, diesen Energiekomplex irgendwie zu retten. Moskau hat das nicht mit Gewalt umgesetzt, sondern stets gute Angebote zur Kooperation unterbreitet. Polen hätte 2002 zum Beispiel ein Hub für russische Gaslieferungen nach Europa werden können. Die Polen haben dies aber aus politischen Gründen abgelehnt, dasselbe gilt für die Länder im Baltikum. Man will sich nicht zu eng an Russland binden. Aus meiner Sicht ist diese Angst unbegründet. Die mittel- und osteuropäischen Länder sind längst im Westen angekommen. Es ist falsch, stets die alten Gespenster aus dem Kalten Krieg herbeizureden. Diese Sichtweise ist häufig zum Nachteil Deutschlands. Die Polen fordern nun von der EU, aus europäischen Mitteln eine Gaspipeline von Norwegen nach Polen zu bauen, auch die polnischen Terminals sollen von Europa bezahlt werden. Das ist ein Unding. Bei den deutsch-russischen Energiebeziehungen wird alles von der Privatwirtschaft bezahlt. In der Diskussion gibt es verdrehte Tatsachen. Offenbar haben Teile der Eliten in Mittelosteuropa nicht vergessen können, dass sie 45 Jahre lang im Kommunismus vom übrigen Europa abgetrennt waren und dafür die Schuld nicht bei Hitler sehen, sondern bei Stalin, der diese Länder erobert und den Kommunismus eingeführt hatte.

Welche geopolitischen Interessen verfolgt Russland mit dem Bau der Ostseepipeline?

Natürlich will Russland mit Erdgas Geld verdienen. Und ich denke, Russland hat den Wunsch nicht aufgegeben, politisch eine Energiesupermacht zu werden. Aber ähnliche Wünsche hegen auch die USA und Saudi-Arabien. Das ist legitim. Doch aufgrund der Vergangenheit stößt Russlands Verlangen, an Stärke zu gewinnen, immer wieder auf Ängste und Widerstände. Seit sechs Jahren wird vor allem in den mittel- und osteuropäischen Ländern darüber geredet, dass die NATO sich um Energiefragen kümmern muss. Das ist doch absurd. Es ist der Versuch, die russische Wirtschaft zu isolieren und den russischen Energiemarkt einzudämmen, um Russland zu bestrafen für die Politik, die die Sowjetunion im 20. Jahrhundert betrieben hatte.

Das EU-Parlament hat kürzlich einer Änderung der EU-Gasdirektive zugestimmt. Nun sollen die strengen Vorschriften für EU-Pipelines auch auf Pipelines aus Drittstaaten angewandt werden. Welche Folgen hat das für Nord Stream 2?

Das ist nicht abzusehen. Bei Projekten, die seit Jahren laufen, können solche Dinge nicht über Nacht geregelt werden. Man wird also mit Sondergenehmigungen arbeiten müssen. Was grotesk ist: Die Änderung der EU-Gasdirektive richtet sich nur gegen Russland. Die anderen Pipelines aus Algerien, Großbritannien und Nordwegen sind von dieser Direktiven-Bildung freigesprochen. Ich denke, früher oder später wird man klären müssen, ob das rechtlich in Ordnung ist. Doch die Zeit spielt nicht gegen Russland. Wenn wir uns von Öl und Kohle trennen, benötigen wir verstärkt Gas, damit die Menschen nicht frieren müssen. Und dann wird man natürlich dankbar sein, dass es Pipelines gibt, die in der Lage sind, im kalten Winter weitere Mengen an Erdgas aus Russland zu beziehen.

Die USA könnten Sanktionen gegen Nord Stream 2 verhängen. Wäre das Projekt dann überhaupt noch sinnvoll?

Nord Stream 2 wird umgesetzt. Es ist zu einer Frage des Stolzes geworden. An diesem Beispiel zeigt sich, dass Deutschland nicht gewillt ist, ein Vasall Amerikas zu sein und immer nur nachzugeben, wo Amerika es fordert. Kleinere Staaten in Osteuropa wollen womöglich ein stärkeres Amerika, einen amerikanischen europäischen Kontinent. Aber in Sicherheits- und Wirtschaftsfragen haben sich Deutschland und Frankreich seit dem Zweiten Weltkrieg integritätsmäßig und europäisch entwickelt. Deshalb wird die Stimme immer lauter, dass man sich von den Amerikanern nicht alles erlauben lassen muss. Natürlich hat Merkel einige Kompromisse gemacht, um die deutsche Führungsrolle in Europa nicht zu gefährden. So hat sie dem amerikanischen Flüssiggas alle Türen geöffnet und damit auch Polen suggeriert, dass Deutschland bereit ist, Erdgas in den Osten zu liefern. Doch nach all den Skandalen in der Automobilindustrie steht die Bundeskanzlerin beim Thema Nord Stream 2 endlich hinter den Interessen der deutschen Wirtschaft.

Angenommen, europäische Investoren wie Wintershall ziehen sich wegen den US-Sanktionen zurück. Wird Russland die Pipeline dann allein bauen?

Davon gehe ich aus. Aber wenn es wirklich so weit kommt, befinden wir uns in einem Wirtschaftskrieg gegen die USA. Dass Russland für die Krim bestraft wird, ist eine Sache. Das konnte jeder nachvollziehen. Aber Firmen, vor allem Zulieferer, die seit Jahrzehnten im Gasgeschäft tätig sind, auf dem amerikanischen Markt so sehr zu bestrafen, ist ein Unding. Wenn das Schule macht, können wir nicht mehr von Globalisierung und Regeln der Welthandelsorganisation sprechen. Dann haben wir wieder kontrollierte und regulierte Märkte. Das werden die Amerikaner wohl kaum machen. Außer, sie wollen Russland so stark schaden, dass ihnen die Reaktion aus Europa egal ist.

Viele sprechen von einem Paradigmenwechsel – weg vom freien Markt und zurück zur nationalen Interessenspolitik. Stimmt das? 

Ja, das kann ich bestätigen. Es ist noch nicht eingetroffen, aber sehr nah. Wir stehen vor einer Zäsur der Weltordnung. Die alte Wertegemeinschaft hat aufgehört zu existieren. Dazu gehören der freie Welthandel und das Bretton-Woods-System, das alles liegt in Trümmern. Zum einem wegen der egoistischen Position der Amerikaner, zum anderen wegen der protektionistischen Politik der Russen, Chinesen und Europäer sowie den immer größer werdenden Umbrüchen in Afrika und im Nahen Osten.

[Thorsten Gutmann/russland.CAPITAL]

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