Medwedew heizt Debatte über Grundeinkommen in Russland an

Medwedew heizt Debatte über Grundeinkommen in Russland an

Dmitri Medwedew, stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates und Vorsitzender der Partei „Einiges Russland“, schlug während eines Online-Treffens, das auf der Website der Partei übertragen wurde, eine Diskussion über die Einführung eines Grundeinkommens in Russland vor.

„Gemeint ist damit die Unverletzlichkeit dies Mindestbetrags an Geld, den der Staat einer Person unabhängig von der Art der Tätigkeit und des sozialen und wirtschaftlichen Status zahlt“, erklärte Medwedew. Er wies darauf hin, dass solche Modelle in einigen Ländern bereits existieren.

„Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig es ist, die Menschen zu unterstützen, um die soziale Stabilität zu erhalten. Natürlich erfordert diese Idee die sorgfältigste Analyse“, so Medwedew. Er lud seine Parteikollegen ein, diese Idee mit Regierungsmitgliedern und Gewerkschaften zu diskutieren.

Das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) ist die regelmäßige Zahlung eines bestimmten Geldbetrags an jeden Bürger durch den Staat. Sie wird in der Regel unabhängig vom Einkommensniveau und ohne die Auflage zur Aufnahme einer Arbeit ausgestellt.

Am Montag hatte der Vorsitzende des Ausschusses für Wirtschaftspolitik des Föderationsrates, Andrei Kutepow, ein Grundeinkommen für Arbeitslose in Russland vorgeschlagen.  Er stellte fest, dass während der akuten Phase der Coronavirus-Pandemie die Höhe des Arbeitslosengeldes auf das Existenzminimum angehoben wurde, was jedoch nicht ausgereicht hat. „Selbst wenn man die zusätzlichen Zahlungen für minderjährige Kinder in Familien von Arbeitslosen und andere Zahlungen an die Haushalte berücksichtigt, konnten nicht alle ihren Einkommensverlust kompensieren und einen angemessenen Lebensstandard aufrechterhalten.“ Kutepow schlug vor, das Programm im Jahr 2020 zu starten und bis 2025 laufen zu lassen. Die Anfangskosten für die Umsetzung sollte der Nationale Wohlfahrtsfonds übernehmen.

Auch der  erste stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Sozialpolitik des Föderationsrates und Vorsitzender der Union der Rentner Russlands, Walery Rjasansky, ist der Ansicht, dass „ein bedingungslos garantiertes Einkommen für jeden Bürger zu einem starken sozialen Argument in der Arbeit der Behörden und bei der Gewährleistung des sozialen Friedens im Land werden könnte“. Laut Rjasansky sollte jedem Bürger ein garantiertes Einkommen zugewiesen werden. „Heute arbeitest du und versorgst dich und deine Familie, aber morgen hast du deinen Job verloren oder bist krank geworden. Man solle aber nicht übersehen, dass garantierte Zahlungen Menschen demotivieren können, „ihre Qualifikationen zu verbessern und zu studieren oder nach einem besseren Job zu suchen“.

Warum Dmitri Medwedew nach seiner als gescheitert angesehenen Diskussion über die viertägige Arbeitswoche diese neue, nicht weniger modische, ehrgeizige Idee hatte, wird in Russland heftig diskutiert.

Alexander Suslina, Leiter der Finanzpolitik der Wirtschaftsexpertengruppe (Economic Expert Group), hält die Idee im abstrakten Sinne für großartig – wie alle utopischen Ideen, die aber konkret im Leben, und besonders in Russland, kaum realisierbar ist. „In der realen Welt, in der die Ressourcen begrenzt sind, stellt sich die Frage, auf wessen Kosten diese Idee umgesetzt werden soll. Es gibt kein freies Geld im russischen Haushalt, und angesichts der Krise, des Coronavirus und der niedrigen Ölpreise wird es für lange Zeit kein Geld mehr geben. Damit dieses Instrument funktioniert, wird eine Ressourcenbasis benötigt, die jetzt nicht mehr vorhanden ist“, so Suslina. Er nennt noch drei mögliche Erklärungen für Medwedews Aussage. „Entweder wurde es nur aus PR-Gründen gemacht und nichts von dieser Initiative ist geplant. Oder unter seiner Schirmherrschaft werden die bestehenden Leistungen und Zulagen irgendwie neu aufgelegt – in diesem Fall handelt es sich lediglich um eine Reform des Sozialhilfesystems, die längst überfällig ist, aber im Wesentlichen nichts mit dem BGE-Konzept zu tun hat.“ Die dritte, laut Suslina unangenehmste, Erklärung ist die, dass Medwedew die Gesellschaft auf eine schrittweise Erhöhung der Steuern vorbereiten wolle: „Zuerst werden die Menschen eine Maßnahme unterstützen, die für sie angenehm ist, und dann stellt sich heraus, dass sie sie selbst finanzieren müssen“. So war es auch bei nationalen Projekten: Zuerst kamen sie auf Projekte, und dann stellte sich heraus, dass sie Geld finden mussten – danach wurde die Mehrwertsteuer von 18 auf 20 Prozent angehoben, deren Endzahler Bürger sind.

Das einzige Szenario, in dem das Grundeinkommen gerechtfertigt wäre, ist die Unterstützung der Bürger unter Bedingungen strenger Quarantäne, meint Suslina. Es würde genug Geld dafür geben (Ökonomen schlugen vor, 2 bis 3 Billionen Rubel zuzuteilen), und die Vorteile waren klar: zu verhindern, dass Menschen in Armut abrutschen und die Verbrauchernachfrage nachlässt.

Die Idee eines Mindestgrundeinkommens, das von Politikwissenschaftlern normalerweise als links und paternalistisch wahrgenommen wird, hat bei russischen Geschäftsleuten unerwartete Unterstützung gefunden. Pawel Sigal, Erster Vizepräsident der Organisation für kleines und mittleres Unternehmertum Opora Rossii, äußerte in einem Interview mit RT die Hoffnung, dass eine solche Maßnahme das Armutsniveau im Land verringern und damit die Verbrauchernachfrage ankurbeln würde, was gut für das Geschäft ist.

Einer der Entwickler des russischen obligatorischen Krankenversicherungssystems, Wladimir Grischin, schlug unter dem Hinweis auf die Vorteile und Risiken der Initiative vor, das Mindesteinkommen nach einem dem Mutterkapital ähnlichen System zu zahlen – es kann nur für bestimmte Zwecke wie für Bildung, Gesundheitsfürsorge, Bezahlung von Wohnraum und kommunale Dienstleistungen ausgegeben werden.

Der Direktor des Instituts für Neue Gesellschaft, Wassili Koltaschow, ist besorgt, dass das Geld für die neue Zahlung auf Kosten anderer sozialer Ausgaben aus dem Haushalt gezogen würde. „Wenn der Bundeshaushalt für das bedingungslose Einkommen der Bürger ausgegeben wird, werden die Staatsangestellten in den Regionen Hungerrationen erhalten, und Schulen, Krankenhäuser, Sozialkantinen und Pflegeheime für ältere Menschen werden keine neue Infrastruktur haben. Es gibt viele ungelöste Probleme im Land, für die der Staat den Bundeshaushalt und die Kredite ausgibt“, erinnert der Ökonom.

Die Unterstützung der Arbeitslosen bestehe darin, dass sie von Arbeitsämtern für Berufe umgeschult würden, die auf dem Markt stärker nachgefragt sind. „Wenn aber der Staat ein unentgeltliches Grundeinkommen zur Verfügung stellt, verschwindet die Verpflichtung zur Umschulung der Arbeitslosen“, betonte Koltaschow. „Nach der Verfassung ist Russland ein sozialer Staat, aber wenn jedem ein bedingungsloses Einkommen angeboten wird, wird die soziale Verantwortung des Staates zerstört.“

Lilia Owtscharowa, Direktorin des Instituts für Sozialpolitik an der Higher School of Economics, sieht für die Einführung des Grundeinkommens zwei Hauptbedingungen: Die Arbeitsproduktivität und das Niveau des Sozialsystems müssen überdurchschnittlich entwickelt sein. Beide Bedingungen hält sie in Russland für nicht erfüllt.

Während Russland die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens noch immer diskutiert, wenn auch jetzt auf hohem Niveau, so experimentieren andere Länder bereits und planen die Konsequenzen der Umsetzung der Idee zu untersuchen.

Das bekannteste Experiment wurde in Finnland durchgeführt. Im Januar 2017 begann ein zweijähriges Experiment mit der Zahlung des Grundeinkommens. Bis Ende 2018 erhielten zweitausend Bürger unter 28 Jahren vom Staat ein monatliches „Geschenk“ in Höhe von 560 Euro – steuerfrei und unabhängig von der Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Ein Betrag, der aber um ein Vielfaches unter dem finnischen Existenzminimum liegt.

Im Mai 2020 stellte das Arbeitsministerium des Landes seine Ergebnisse vor. Die Daten wurden mit denen einer Kontrollgruppe verglichen, die regelmäßig Arbeitslosengeld erhielt. Es stellte sich heraus, dass BGE-Empfänger im Durchschnitt zufriedener mit ihrem Leben sind, ihre finanzielle Situation höher einschätzen und weniger anfällig für depressive Stimmungen sind.

Es wurde angenommen, dass die am Experiment beteiligten Finnen hauptsächlich in kleine Unternehmen investieren werden. Nach einem garantierten Einkommen als starkem Rücken sind die Menschen nach Ansicht der Organisatoren eher bereit, Risiken einzugehen. Als sich diese Methode als unwirksam erwies, wurde das Projekt jedoch eingeschränkt. Die Begünstigten zeigten größtenteils keine eigene Geschäftstätigkeit und verwandelten sich in gewöhnliche „Trittbrettfahrer“.

In Großbritannienvervielfachten sich vor dem Hintergrund der Pandemie die Experimente mit dem Grundeinkommen. Es soll inzwischen mindestens 27 geben. Auf besonders fruchtbaren Boden fällt die Idee in Schottland. Im Mai schlug die Regierung ein Experiment vor, das in den Städten Edinburgh und Glasgow sowie den Regionen Fife und North Ayrshire ablaufen soll.

Für drei Jahre sollen 2.500 Einwohner etwa 235 Euro pro Woche erhalten, und weitere 14.600 Teilnehmer des Experiments erhalten Zahlungen, die dem aktuellen Niveau der Sozialleistungen entsprechen. Das Experiment würde Schottland gut 200 Millionen Euro kosten, aber die schottische Regierung muss zuerst mit den Behörden in London verhandeln, die der Idee äußerst skeptisch gegenüberstehen.

In Italien wurde ein erstes Projekt 2016 gestartet, in dessen Rahmen die 100 ärmsten Familien in der Toskana ein Grundeinkommen von 537 Euro erhalten sollten. Das Projekt wurde jedoch bald aufgrund eines Haushaltsdefizits gekürzt. Inzwischen läuft ein anderes Projekt mit einem bedingungslosen Grundeinkommen von 780 Euro für Personen, die mit ihrem Einkommen unter der absoluten Armutsgrenze liegen.

In Deutschland haben die Behörden kürzlich die Idee der Einführung eines Grundeinkommens abgelehnt. Im August sagte Finanzminister Olaf Scholz, es sei sehr teuer und drohe, „die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates“ zu untergraben. Einige Tage zuvor wurde in Deutschland eine Website gestartet, auf der Freiwillige für das erste DIW-Experiment (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) gesucht wurden, das ab dem Frühjahr 2021 drei Jahre lang 1200 Euro pro Monat zahlen sollte. Bisher gingen bereits über 1 Million Bewerbungen ein.

Im vergangenen Jahr startete die internationale Organisation Basic Income Earth Network ein ähnliches Experiment in mehreren verarmten Regionen der Ukraine, das jedoch aufgrund von Protesten von Gemeindebeamten bald eingestellt wurde. Einige ukrainische Ökonomen haben jedoch in diesem Jahr landesweit ein Grundeinkommen gefordert – da die Coronavirus-Krise Tausende Ukrainer unter die Armutsgrenze gebracht hat.

In armen Ländern wird die Idee eines solchen Einkommens jedoch als recht erfolgreich angesehen. In Indien wurde ein Projekt ab 2012 im Bundesstaat Madhya Pradesh durchgeführt. Einwohner armer Dörfer des Staates erhielten vom Staat jeden Monat ein „Geschenk“ von 200 bis 300 Rupien (bis zu 3,50 Euro) für einen Erwachsenen und 100 Rupien (etwa 1,15 Euro) für ein Kind.

Der Iran hat bereits 2010 ein garantiertes Mindesteinkommen für alle Bürger des Landes festgelegt. Gleichzeitig hat die Regierung die Subventionen für Benzin gestrichen. Der Betrag ist gering – etwa 34 Euro pro Monat. In Brasilien gibt es ein Programm für arme Familien, deren schulpflichtige Kinder allerdings die Schule besuchen müssen. Experimente mit dem Grundeinkommen waren in Uganda, Kenia und Namibia weit verbreitet. Dort wurden sie jedoch nicht von lokalen Behörden, sondern von internationalen gemeinnützigen Organisationen durchgeführt.

Die meisten russischen Wirtschaftsvertreter, die mit dem Wirtschaftsportal The Bell gesprochen haben, nehmen die Vorschläge zum BGE nicht ernst. Medwedew und die Partei Einiges Russland „haben dieses Thema nicht mit Mitarbeitern der Präsidialverwaltung und den Regierungsmitgliedern nicht ernsthaft diskutiert“, versichert ein Bundesbeamter in einem Gespräch mit The Bell. Er selbst habe von Medwedews Vorschlag aus den Medien erfahren.

Die Weltbank kam letztes Jahr zu dem Ergebnis, dass, selbst wenn alle bestehenden Sozialhilfemaßnahmen durch eine einzige Grundzulage ersetzt würden, etwa 50% des russischen BIP vonnöten seien, um das Wohlergehen der Armen steigen zu lassen,

Man sollte also nicht mit einer wirklichen Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in Russland rechnen. Diese Idee von Dmitri Medwedew wird sich entweder wie die der viertägigen Arbeitswoche in Luft auflösen oder sich in etwas schwer zu Erkennendes und vielleicht Unangenehmes verwandeln.

[hrsg/russland.NEWS]

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