Herr Wittkowski, die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer (AHK) befindet sich in Moskau. Warum gibt es noch die AHK-Filiale Nordwest?
Boris Wittkowski: Die Frage wird häufiger gestellt. Man berücksichtigt nicht, wie riesig Russland ist. Das ist gar nicht möglich, nur mit einer Filiale sämtliche Regionen abzudecken. Und der Nordwesten Russlands, mit einer Fläche so groß wie Deutschland, Frankreich und Spanien zusammen, ist besonders fortschrittlich hinsichtlich der Wirtschaft und staatlichen Subventionsprogrammen. Hier gibt es industrielle Cluster und Sonderwirtschaftszonen, die es auch deutschen Firmen ermöglichen, sich vor Ort niederzulassen und mit besonderen Vergünstigungen ihre Geschäfte aufzubauen. St. Petersburg selbst, das Leningrader Gebiet und Kaliningrad sind unsere Schwerpunkte. Und noch eins darf man nicht vergessen: Die Entfernung nach Europa. In 2,5 Flugstunden sind Sie in Deutschland, nur ca. 200 km trennen uns vor der finnischen Grenze. Für die Firmen, für die Logistik eine wichtige Rolle spielt, ist die Lage optimal. Die Verkehrsinfrastruktur bzw. das Straßennetz sind in Russland leider nicht so gut entwickelt wie in Deutschland. Eine gute Anbindung an Europa ist für viele Firmen daher entscheidend, wenn es um die Lokalisierung der Produktion oder die Distribution geht.
Mit welchen Fragen wenden sich deutsche Unternehmen, die in Russland investieren wollen, an Sie?
Boris Wittkowski: Das ist ein ganzes Fragenspektrum. Mittelständische und kleine Unternehmen wollen z.B. wissen, wie man überhaupt in Russland eine Firma gründen kann, worauf muss man bei der Buchführung achten, oder wie bekommt man ein Visum für eine ausländische Fachkraft usw. Und natürlich kommen Fragen nach einem geeigneten Geschäftspartner in Russland. An der Stelle ist unsere Expertise sehr gefragt und geschätzt. Wir unterstützen auch deutsche Firmen, die sich bereits niedergelassen haben, mit unseren Dienstleistungen, unserem Netzwerk und der Lobbyarbeit, organisieren Treffen mit der regionalen Politik und fungieren als Brückenbauer.
Bei sämtlichen Russlandkonferenzen hört man über die enorme Wichtigkeit, einen richtigen Geschäftspartner in Russland zu haben. Ist das nicht eine Selbstverständlichkeit überall auf der Welt? Oder ist Russland wieder etwas Besonderes?
Boris Wittkowski: Ich glaube, wenn wir das aus Sicht einer deutschen Firma betrachten, dass es sich um die Erwartungshaltung bezüglich der Qualität handelt. Die Qualitätsfrage ist ein wesentlicher Produkt- und Dienstleistungsmerkmal. Deutsche Unternehmen, die in Russland produzieren oder nach Russland exportieren wollen, legen sehr großen Wert darauf, dass der Partner das erfüllt, was er verspricht, und zwar nicht nur zum Beginn der Kooperation, sondern während der gesamten Vertragslaufzeit. Häufiger ist in Russland das Problem zu beobachten, dass das Vorhaben sehr gut angegangen und Probleme gelöst werden, aber mit der Zeit flacht die Qualitätskurve ab. Es ist wichtig darauf zu achten, dass das Leistungsniveau konstant bleibt. Eine Lösung in der Hinsicht kann auch ein zuverlässiger Mittelsmann sein. So beispielsweise auch die AHK.
Und dann gibt es wahrscheinlich Missverständnisse in der Kommunikation zwischen deutschen und russischen Geschäftspartnern?
Boris Wittkowski: Die Missverständnisse entstehen aufgrund unterschiedlicher Erwartungshaltungen und Erfahrungswerte. Dabei handelt es sich um eher kleinere Differenzen. Nehmen wir zum Beispiel die Höhe der Provisionsvergütung. Die übliche Provisionshöhe fällt in Russland im Schnitt wesentlich höher aus. In Deutschland sind die Firmen bestrebt in die Personalausbildung zu investieren und dafür ist die Provision etwas geringer. Verschiedene Modelle werden angewendet.
Die Corona-Pandemie hat die Wirtschaft weltweit hart getroffen. Vor welchen Herausforderungen steht das deutsche Unternehmertum in Russland?
Boris Wittkowski: Ganz aktuell ist das Thema der Instandhaltung. Eine Anlage muss zum Beispiel gewartet werden, oft durch einen Fachspezialisten. Und diese Leute sind häufig in Russland nicht vorhanden und müssen aus Deutschland eingeflogen werden. Die Grenzschließung hindert viele deutsche Firmen daran, die vorgeschriebenen Wartungsintervalle einzuhalten, denn der Einreiseprozess für solches Fachpersonal ist sehr kompliziert und aufwendig.
Die deutsche Wirtschaft hat schon viele Krisen in Russland überstanden. Wie schätzen Sie die jetzige Situation ein? Werden einige Inverstoren doch ihre Sachen packen und den russischen Markt verlassen?
Boris Wittkowski: Ich glaube, dass deutsche Unternehmen nach wie vor ein großes Interesse an Russland haben. Zum Beispiel habe ich erst kürzlich eine Anfrage von einem bayerischen Hersteller von kleinen Windmühlen bekommen. Sie wollen gern auf den russischen Markt kommen, denn sie sehen für ihren Produkt viel mehr Potential in Russland als in der EU, allein schon aufgrund der Fläche des Landes. Das Thema der Windenergie gewinnt in Russland immer mehr an Bedeutung. Für viele Produkte ist das Land quasi unumgänglich. Der europäische Markt ist in vieler Hinsicht gesättigt, der russische Markt bietet nach wie vor sehr viel Potenzial. Hier gibt es Möglichkeiten, etwas anzubieten, was für die Kundschaft noch neu ist. Außerdem ist der Begriff „Made in Germany“ für die russischen Kunden immer noch sehr wertvoll. Deswegen bin ich überzeugt, dass Russland für viele deutsche Unternehmen ein riesiger Absatz- und Kooperationsmarkt bleibt, auch wenn er durch Sanktionen jetzt eingeschränkt ist. Es lohnt sich, Richtung Russland zu schauen und die AHK hilft gerne dabei.
[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]
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