„Größe ist entscheidend“: Igor Belikow über Situation in russischer Wirtschaft

„Größe ist entscheidend“: Igor Belikow über Situation in russischer Wirtschaft

Leiter des Russischen Instituts der Direktoren (RID), Mitautor des russischen Kodex der Corporate Governance, Autor des Buches „Aufsichtsrat. Ein neuer Ansatz ” Igor Belikow im Gespräch mit russland.NEWS

Igor Wjacheslawowich, was stellt das russische Business heute dar?

Belikow: Das derzeitige russische Business bildet kein Ganzes. Es ist eine Gemeinschaft, die in Gruppen unterteilt ist. Es besteht aus drei Kategorien: klein, mittel und groß. Zwischen den einzelnen Kategorien gibt es fast unüberwindliche Mauern. Es ist fast unmöglich, von einer niedrigeren in eine höhere Kategorie zu gelangen. Nach den Ergebnissen von 2017 beträgt der Beitrag der kleinen und mittleren Unternehmen zum BIP 21,9 Prozent. Ich denke, dass dieser Anteil in absehbarer Zeit bestenfalls auf diesem Niveau bleiben wird. Es ist sogar eher wahrscheinlicher, dass dieser Anteil allmählich abnehmen wird. Die Wirtschaft Russlands wird von großen Unternehmen bestimmt, in denen der Staat eine zunehmende Rolle spielt. In den letzten 15 Jahren hat der Anteil des Staates als direkter Eigentümer stetig zugenommen. Er stärkt ständig seine Rolle als eine Kraft, die alle geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Geschäftstätigkeit bestimmt – rechtliche, finanzielle und andere. Wer in Russland Geschäfte machen will, sollte sich darüber im Klaren sein.

Welche Rolle spielt der Markt in der russischen Wirtschaft?

Belikow: Es gibt eine Reihe von Branchen, in denen der Wettbewerb fortbesteht, manchmal sehr intensiv. Das sind Einzelhandel, Lebensmittelproduktion, Baugewerbe, Mobilfunk, Leichtindustrie, Gastgewerbe und Tourismus und einige andere. Der Einfluss des Staates in diesen Branchen wird jedoch immer mehr spürbar. Die wichtigsten Kanäle sind eine strengere Regulierung, der Erwerb großer Anteile an privaten Unternehmen in diesen Branchen durch die staatlichen Banken, die Gründung von staatlichen Unternehmen in Branchen, in denen es sie bisher nicht gab (zum Beispiel Abfallverarbeitung) und Beschränkungen für die Anteile ausländischer Aktionäre. Diese Trends sollten von allen Teilnehmern dieser Branchen berücksichtigt werden, sowohl von den bestehenden als auch von denjenigen, die in sie einsteigen wollen.

In letzter Zeit gibt es in Russland immer mehr Aussagen, dass große staatliche Unternehmen privatisiert werden sollten. Das steht im Widerspruch zu dem, was Sie gerade sagten.

Belikow: Ich habe starke Zweifel, dass der Staat in absehbarer Zeit die Mehrheitsbeteiligung an Großunternehmen aufgeben wird. Die gesamte Philosophie der staatlichen Verwaltung basiert darauf, immer mehr Ressourcen in den Händen des Staates zu konzentrieren, die Zahl der Industrien, die der Staat für notwendig hält, zu erweitern, diese Kontrolle zu verschärfen und den „manuellen“ Charakter der Leitung zu stärken. Der Verkauf von Minderheitsanteilen an einigen großen staatlichen Unternehmen ist möglich, wird aber die Art und Weise, wie diese Unternehmen geführt werden, nicht verändern. In solchen Fällen dürfte der Verkauf von Aktien in großen Anteilen erfolgen, und der politische Faktor wird bei der Auswahl der potenziellen Käufer eine größere Rolle spielen. Insbesondere werden Käufer mit großen Anteilen, die staatlichen Investmenthäuser aus China, den arabischen Ländern und Indien vertreten, bevorzugt.

Das Hauptmerkmal großer russischer Privatunternehmen ist eine sehr hohe Konzentration des Eigenkapitals. In allen nichtstaatlichen Großunternehmen gibt es einen einzigen Mehrheitsaktionär. Diese Situation wird sich in absehbarer Zeit fortsetzen und wahrscheinlich sogar verschärfen. Es ist bezeichnend, dass die Zahl der an den Börsen notierten russischen Unternehmen im Zeitraum 2012 bis 2019 von 135 auf 86 gesunken ist. Einer der Gründe dafür sind die staatlichen Beschränkungen bei der Veräußerung großer Anteile und ein Verbot der Veräußerung von Mehrheitsbeteiligungen an ausländische Investoren. Für den Staat ist es weitaus bequemer, mit Privatunternehmen zu tun zu haben, an denen ein russischer kontrollierender Anteilseigner beteiligt ist, als mit Unternehmen, an denen eine Reihe von Großaktionären, insbesondere westlicher institutioneller Investoren, beteiligt sind. Eine sehr hohe Konzentration des Kapitals russischer Unternehmen wird auch durch die etablierte Sozialkultur der Beziehungen unterstützt – ein hohes Maß an Hierarchie, Autoritarismus und ein geringes Maß an Vertrauen.

Das alles scheint deutsche Unternehmen davon nicht abzuhalten, weiterhin in den russischen Markt einzusteigen.

Belikow: In der russischen Wirtschaft gibt es noch viele Nischen, in denen es eine Chance auf gute Gewinne gibt. Russische Großunternehmen sind an einer Zusammenarbeit mit westlichen Großunternehmen in einer Reihe von Bereichen interessiert. Vor allem im Bereich der Beschaffung und Umsetzung neuer Technologien. Diejenigen aber, die auf den russischen Markt kommen, sollten sich darüber im Klaren sein, dass das ein sehr hohes Maß an Unvorhersehbarkeit mit sich bringt. In immer mehr Branchen gibt es eine Situation des Monopols oder Oligopols. In diesen Branchen dominierende Großunternehmen verfügen in der Regel über sehr starke administrative Ressourcen. Ganz zu schweigen von staatlichen Unternehmen. In einer wachsenden Wirtschaft gibt es Platz für viele. Aber wenn die russische Wirtschaft weiterhin stagniert, wird sich der Kampf um Marktanteile in jeder Branche verschärfen. Die wichtigsten russischen Akteure werden meiner Meinung nach bereit sein, ihre Lobbying-Kapazitäten aktiv zu nutzen, um die Position der Wettbewerber, auch unter den ausländischen Unternehmen, zu schwächen.

Aber Russland ist an ausländischen Investitionen interessiert wie jede andere Wirtschaft …

Belikow: Sowohl private russische als auch vor allem staatliche Unternehmen sind bereit, mit ausländischen Partnern und Investoren in einem Format zusammenzuarbeiten, in dem sie eine entscheidende Rolle spielen werden. Ausländische Investoren und Partner werden eine subsidiäre und nachrangige Rolle spielen. Mit ihren dominanten Marktpositionen und administrativen Hebeln sind große russische Unternehmen oft in der Lage, diesen ausländischen Partnern eine hohe Rendite zu bieten, sind aber nicht bereit, die tatsächliche Kontrolle mit ihnen zu teilen und ihnen zu ermöglichen, wichtige Entscheidungen zu treffen. Das ist die Philosophie und Praxis der Geschäftstätigkeit in Russland. Ich rate ausländischen Partnern und Investoren dies zu berücksichtigen. Im Allgemeinen unterscheiden sich die Bedingungen für die Geschäftstätigkeit in Russland stark von denen in westlichen Ländern.

Das russische Institut der Direktoren (RID) wurde Ende 2001 mit Unterstützung einer Gruppe großer russischer Unternehmen gegründet. Hauptziel war und ist die Förderung der Corporate Governance, die Einführung und Weiterentwicklung von Praktiken, die einen wirksamen Anlegerschutz bieten, sowie die erfolgreiche Entwicklung russischer Unternehmen. Zu diesem Zweck werden regelmäßige Untersuchungen und Schulungen durchgeführt und eine professionelle Community von Unternehmensleitern gebildet.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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