Die russische Fischverarbeitungsfabrik Alaid auf der Insel Paramuschir hat ihren Betrieb eingestellt. Der Tsunami hat die gesamte Ausrüstung des Unternehmens zerstört. Dies geht aus einer Erklärung der Verwaltung des Bezirks Sewero-Kurilski hervor, die von RIA Nowosti zitiert wird.
120 Tonnen Lachs und eine Tonne Jakobsmuscheln, die in der Fabrik gelagert waren, wurden von einer Welle weggespült. Zudem wurden ein Treibstoff- und Schmiermittellager, Kühlanlagen sowie eine Nähanlage für Fischernetze zerstört. Auch Förderbänder, eine Schreinerei, ein elektrisches Umspannwerk und die Ausrüstung von Lastkraftwagen sind außer Betrieb. Aufgrund der Auswirkungen des Salzwassers könnten die Anlagen nicht wiederhergestellt werden, so die Verwaltung.
Die Mitarbeiter des Werks sind weiterhin damit beschäftigt, das Gelände von den Trümmern zu befreien. Die Höhe des Schadens und die Wiederherstellungszeit werden nach einer Begutachtung durch einen Sachverständigen ermittelt.
Am 30. Juli ereignete sich vor der Küste Kamtschatkas ein Erdbeben der Stärke 8,8, dessen erste Tsunamiwelle 200 Meter tief in das Gebiet eindrang. Das Erdbeben war das stärkste seit 73 Jahren. Exakt in der Region hatte am 5. November 1952 ein Erdbeben der Stärke 8,3 eine 700-km-Zone der Küste Kamtschatkas und der nördlichen Kurilen beschädigt. Geschätzte 14.000 Menschen kamen dabei ums Leben – die meisten durch drei Tsunamiwellen, deren Maximalwert bei 18 Meter lag. Über die Katastrophe wurde damals in der Presse nicht berichtet. Immerhin begann die UdSSR anschließend mit dem Aufbau eines Tsunami-Warnsystems, eines Netzes von Sensoren, die es ermöglichen sollten, die Gefahr seismischer Meereswellen rechtzeitig zu erkennen.
Auch wenn der Gouverneur der Region, Wladimir Solodow, das aktuelle Beben „eine schwere Prüfung für uns alle” nannte – neben der zerstörten Fabrik wurden ein Kindergarten und ein Einkaufszentren beschädigt, in einigen Kirchen läuteten aufgrund der Erdstöße die Glocken – gab es keine katastrophalen Folgen mit massenhaften Todesopfern.
Die Bewohner von Kamtschatka und der gesamten Pazifikküste hatten großes Glück, dass nur eine drei bis vier Meter hohe Tsunamiwelle von ihre Küstengebiete überflutete. Berechnungen von russischen und amerikanischen seismologischen Diensten ließen auf weitaus höhere Wellen schließen.
Die Seismologen haben einen nachvollzieh- und verzeihbaren Fehler gemacht. Das Hauptkriterium für den Erfolg seismologischer Vorhersagen ist nämlich die Kommunikation zwischen Wissenschaftlern und den in Notfällen zuständigen Entscheidern und nicht die Genauigkeit der Vorhersage. Der Zweck seismologischer Warnungen ist es, die Evakuierung der Bevölkerung so früh wie möglich einzuleiten, wenn diese bedroht ist – und nicht, die Höhe der Welle genau zu berechnen.
Dennoch hat das Erdbeben am Morgen des 30. Juli die Bewohner der Halbinsel Kamtschatka sowie die Einsatzkräfte überrascht. Seitdem wurden in der Region mindestens 50 schwächere Nachbeben registriert. Seismologen warnen, dass die Nachbeben bis September andauern könnten. Vorhersagen zufolge werden neue Beben mit einer Stärke von 7,5 erwartet, was ausreicht, um neue Tsunamis auszulösen, wenn sich das Epizentrum unter dem Meeresboden befindet.
Das russische Wirtschaftsmagazin Experte befragte Fachleute, warum solche Naturkatastrophen nach wie vor schwer vorhersehbar sind und ob die Rettungsdienste in gefährlichen Regionen schnell darauf reagieren können.
Wladimir Kosobokow vom Institut für Erdbebenvorhersage erinnert daran, dass nur ein Fall bekannt ist, in dem es möglich war, ein Erdbeben mit einer Genauigkeit von wenigen Stunden vorherzusagen. „Die Erdbebenvorhersage war und ist eine rein probabilistische Vorhersage, die auf der Analyse großer Datenmengen beruht. Es gibt viele Instrumente, die die Erdkruste ‚abhören‘ und Anzeichen eines herannahenden Sturms erkennen. Doch auch sie können die objektiven Anzeichen eines herannahenden Mega-Erdbebens nicht exakt vorhersagen.
In der modernen Geschichte ist nur ein einziger Fall bekannt, in dem ein Erdbeben mit einer Genauigkeit von wenigen Stunden vorhergesagt werden konnte: der 4. Februar 1975 in der chinesischen Provinz Liaoning. Damals erreichte die Stärke der Erschütterungen 7,3 auf der Richterskala. Dank der Vorhersage der Seismologen konnten die Bewohner rechtzeitig aus den gefährdeten Gebieten evakuiert werden, wodurch die Zahl der Todesopfer minimiert wurde.
Sie wurden innerhalb weniger Stunden vor der bevorstehenden Katastrophe gewarnt. Neben seismischen Beobachtungen half bei der Vorhersage auch ungewöhnliches Tierverhalten – Schlangen hatten zu früh ihr Winterlager verlassen.“
Kosobokow erinnert an ein Beispiel für mangelhafte Kommunikation in Japan: Seismologen hatten bereits seit mehreren Jahren auf die hohe Wahrscheinlichkeit eines katastrophalen Erdbebens und eines Tsunamis hingewiesen, die sich dann 2011 ereigneten.
Kamtschatka und die Kurileninseln sind die seismisch aktivsten Regionen Russlands. Kurz nach dem Erdbeben am Morgen des 30. Juli brach der Vulkan Kliutschewskaja Sopka aus.
Vorgestern wurde der erste Ausbruch des Vulkans Krascheninnikow in der Geschichte der Beobachtungen beobachtet. „Dies sollte ein Weckruf sein, höchste Alarmbereitschaft auszurufen“, mahnt Kosobokow.
Der Geophysiker Alexei Sawjalow von der Russischen Akademie der Wissenschaften informiert, dass von der ganzen Reihe von Techniken zur Erdbebenvorhersagen nur die Langzeitvorhersagen zuverlässig sind. Mittel- und kurzfristige Vorhersagen seien viel schwieriger.
Langfristige Vorhersagen berechnen aufgrund der Wahrscheinlichkeitstheorie, ob in einer seismisch aktiven Region innerhalb von 10 bis 15 Jahren etwas passieren wird. Auf kürzere Zeiträume funktioniert das nicht. „Es wird noch lange dauern, bis der tägliche Wetterbericht die Wahrscheinlichkeit von Erdbeben bei so und so viel Prozent vorhersagt“, so Sawjalow.
Erdbeben mit einer Stärke von mehr als 8,0 treten im Durchschnitt einmal pro Jahr auf, d. h., es handelt sich nicht um ein einmaliges Phänomen. In diesem Fall lag der Ursprung des Erdbebens unter dem Meeresboden und eine der Ebenen, entlang derer sich die Krustenblöcke bei der Entstehung des Erdbebens bewegten, war nahezu horizontal mit einem Einfallswinkel von 18 Grad. Diese Bewegung löste einen Tsunami aus, dessen Wellen eine Amplitude von 3 bis 5 Metern hatten. Wäre die Ebene annähernd vertikal gewesen, wäre der Aufprall des Krustenblocks auf die darüberliegende Wassersäule stärker gewesen und die Amplitude der Tsunamiwellen wäre wahrscheinlich größer gewesen.
Seit 35 Jahren ist eine Zweigstelle des Russischen Expertenrates für Erdbebenvorhersage (REC) in Kamtschatka tätig. Sie arbeitet 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Einmal pro Woche übermittelt der REC der regionalen Verwaltung seine Schlussfolgerungen über die Wahrscheinlichkeit seismischer Ereignisse. „Wie diese Informationen genutzt werden, liegt jedoch nicht in der Kompetenz der Wissenschaftler“, relativiert Sawjalow.
Gibt es eine Möglichkeit, die Vorhersagen genauer zu machen? Ja, aber dies erfordert neue Datenerfassungstechnologien und wesentlich mehr Sensoren.
Die traditionelle Methode zur Bestimmung der Quelle von Erdbeben und zur Vorhersage der Größe von Tsunamis ist die Analyse von Daten aus Seismographen. Sie sind die ersten, die Schwingungen in der Erdkruste aufzeichnen, auch wenn sie Tausende von Kilometern vom Epizentrum entfernt sind. Durch den Vergleich der Schwingungsdaten, die von Instrumenten an verschiedenen Orten aufgezeichnet wurden, ist es möglich, das umgekehrte Problem zu lösen: zu berechnen, welche Bewegung im Inneren der Erdkruste die von diesen Seismographen „gesehenen“ Schwingungen erzeugt hat. Die Kenntnis der Menge dieser Energie allein erlaubt es jedoch nicht, die Höhe der Welle, die ein Erdbeben erzeugen wird, genau zu bestimmen.
Diese Ungenauigkeit hat die Entwicklung und den Ausbau von grundlegend anderen Warnsystemen angeregt, die nicht mehr auf der Auswertung von Daten aus weit entfernten Seismographen beruhen, sondern auf der direkten Messung dessen, was in der Nähe des Erdbebens geschieht. Dabei kann es sich zum Beispiel um Sensoren handeln, die den Wasserstand messen und auf schwimmenden Bojen angebracht sind oder um Bodenobservatorien, die vor der Südostküste Japans betrieben werden. Es gibt Projekte, bei denen beispielsweise Geolokalisierungsdaten von kommerziellen Tankern und anderen Schiffen verwendet werden, die einfach ihrer Route folgen, um den Meeresspiegel und das Tsunami-Risiko zu bestimmen.
Was die neuen Tsunami-Warnmethoden eint, ist, dass sie alle die Einrichtung dichter lokaler Überwachungsnetze beinhalten, die die Höhe eines erwarteten Tsunamis viel genauer berechnen können als die traditionellen Methoden. Die Einrichtung solcher Netze erfordert jedoch den politischen Willen und die Fähigkeit, langfristige Infrastrukturprojekte zu schaffen.
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