Deutscher Topmanager: „Die Russen kommen mit Unebenheiten besser klar“

Deutscher Topmanager: „Die Russen kommen mit Unebenheiten besser klar“

Johannes Tholey hat sieben Jahre die deutsche Supermarktkette Globus in Russland geleitet, dann für ein russisches Einzelhandelsunternehmen im Topmanagement gearbeitet. russland.NEWS sprach mit einem der erfahrensten Expats in Russland.

Herr Tholey, Sie haben die Uhrzeit und den Ort unseres Interviewtermins kurzfristig verändert. Eine sehr russische Art. Wie viel „Deutschsein“ nach 15 Jahren Erfahrungen in Russland steckt noch in Ihnen?

Johannes Tholey: Ich glaube die deutschen Werte, die bleiben. Natürlich beeinflussen einen der Beruf und das Land, wo man lebt, aber in der Tiefe verändert man sich doch nicht. Und was Verabredungen angeht, wissen Sie, Moskau ist eine Stadt, wo es sehr viel Bewegung gibt, aber auch Staus, Baustellen. Und der Terminkalender ist immer voll. Man muss also lernen, dass viel passieren kann, toleranter mit den zeitlichen Veränderungen umgehen und zeitlich schnell reagieren.

Die Russen seien unzuverlässig, heißt es…

Johannes Tholey: Die Verlässlichkeit im Business hier ist schon sehr hoch. Allerdings, wenn man sich mit Beamten verabredet, da hat man das Gefühl, da ist nichts Verbindliches dabei. Da können Treffen auch 10 Minuten davor abgesagt werden, wenn derjenige zum Bürgermeister muss oder so. Das ist die Vertikale im Staatsapparat sehr ausgeprägt. Aber generell kann man sagen, Pünktlichkeit ist nicht mehr das Problem in Russland.

Gut, wenn Zeit kein Problem ist, welche Probleme auf mentaler Ebene haben Sie mit Russen oder in Russland?

Johannes Tholey: Ich benutze das Wort „Probleme“ sehr ungern. Die Entwicklungen in Russland sind rasend schnell, und mit denen mitzuhalten – das ist eine generelle Herausforderung. Man darf auch kulturelle Unterschiede nicht außer Acht lassen, obwohl die Lebensart sich immer mehr der westlichen angleicht. Aber das Klima, die Geschichte des Landes, die Nähe zu Asien – das sind Einflüsse, die für immer bleiben. Und sie prägen natürlich die Unterschiede in der Kommunikation, in der Denkweise oder in der Art, wie die Traditionen gelebt werden. Die größte Lehre, die ich aus dem Leben in Russland gezogen habe: Urteile nicht, sondern hinterfrage. Für 99 Prozent der Dinge gibt es eine ganz plausible Erklärung. In den ersten Jahren musste ich alle zwei Monate unbedingt nach Deutschland. Mir fehlten Fußgängerzonen, gerade Straßen. Ich wunderte mich: wie können russische Frauen mit ihren Stöckelabsätzen auf schlechten Straßen rumlaufen, ohne umzufallen? Inzwischen glaube ich, dass Russen mit Unebenheiten einfach besser klarkommen.

Nach verschiedenen Engagements in Russland haben Sie auch für ein russischen Unternehmen, die X5 Retail Group, das zu den führenden russischen Multiformat-Lebensmittelhändlern zählt, als Kommerzdirektor gearbeitet…

Johannes Tholey: Das ist die Neugierde. Man versteht dadurch auch die russische Welt viel besser. X5 Retail Group ist eins der Top 10 Unternehmen in Russland und hat täglich um die 12 Millionen Kunden, am Wochenende sind das bis zu 20 Millionen. Einfluss auf die Qualität nehmen können – das war für mich eine sehr interessante Erfahrung. Man hat einen großen Hebel in der Hand. Bei so einem großen Unternehmen ist das sehr reizvoll. Diese Dimensionen bringen natürlich ganz andere Herausforderungen mit sich. Und natürlich ist das Potenzial riesig – an den Innovationen teilzunehmen und dadurch schnell und effektiv zu wachsen. Sowie in Deutschland gibt es in Russland inzwischen eine ganze Bandbreite an Führungskulturen, abhängig von der Branche, Größe etc. X5 Retail Group hat zum Beispiel einen russisch-amerikanischen Führungsstil.   

Und viele Frauen in Führungspositionen…

Johannes Tholey: Bei Globus Russland waren 87 Prozent der Mitarbeiter Frauen und um die 60 Prozent Führungskräfte. Im Vorstand von X5 Retail Group sind sechs Frauen im Topmanagement und eine im Aufsichtsrat. Man kann es sich in Russland als Mann nicht leisten, Frauen als Leistungsträger nicht wahrzunehmen. Es ist eine Selbstverständlichkeit in Russland. Die ganzen Diskussionen über die Frauenquoten, die in Deutschland geführt werden, versteht man hier gar nicht.

Wie innovativ ist der russische Einzelhandel?

Johannes Tholey: Der Onlinehandel wächst in Russland sehr rasant. Der Kuchen ist noch nicht verteilt. Und nicht nur in Moskau. Alle Millionenstädte sind inzwischen moderne Metropolen. Alle Dienstleistungen, die man online anbieten kann, werden auch gern benutzt. Auch in kleineren Städten wie Woronesch, Rjasan, Twer – da entwickelt sich der Onlinehandel mit Lebensmitteln sehr gut.

Und wie stehen die Russen den Bioprodukten gegenüber?

Johannes Tholey: Ein ganz starker Trend ist die Zuwendung zu „grünen“ Produkten. Der X5 Retail Group gehört Seljenyj Perekrjostok“ (zu Deutsch: Grüne Kreuzung), und man hat spezielle Arbeitsgruppen für das Thema Bio. Die Lebensmittelkette „Wkuswill“ propagiert gesunde Produkte und ist damit sehr erfolgreich.  Die Regale mit Bioprodukten wachsen in allen Formaten. Allerdings gibt es noch keine Standards für Bio in Russland.

 Welche Qualitäten muss man haben, um als ausländische Führungskraft Erfolg in Russland zu haben?

Johannes Tholey: Man muss qualifiziert sein, genauso wie im Westen. Und man muss unbedingt die Offenheit bewahren und bereit sein, sich von Denkweisen zu verabschieden und die Menschen hier und ihre Kultur annehmen. Wenn man tolerant ist, hinterfragt und nicht sofort urteilt, läuft es eigentlich ganz gut.

Werden Sie in Deutschland mit irgendwelchen Vorurteilen konfrontiert, wenn Sie sagen, dass Sie in Russland arbeiten?

Johannes Tholey: Also ich stelle immer wieder fest oder bin sogar erstaunt, dass Viele in Deutschland eine ziemlich differenzierte Meinung über Russland haben, über politische Hintergründe und über die nicht immer sachliche Berichterstattung in den deutschen Medien Bescheid wissen. Aber natürlich gibt es überall auf der Welt auch einfache, einfältige Menschen.

Was sagen Sie denjenigen, die sich über Korruption in Russland aufregen?

Johannes Tholey: Die sogenannte Kleinkorruption ist weg. Was ich selbst in den ersten zehn Jahren erlebt habe, dass Beamte korrupt waren, weil sie einfach zu wenig verdienten, das gibt es überhaupt nicht mehr. Die Großkorruption ist noch nicht bekämpft worden, aber die gibt es überall, auch in den USA und auch in Deutschland. Das ist der Faktor Mensch. Das stört und ist nicht gut, aber das russische Finanzamt ist mindestens genau so leistungsfähig, was die Datenverarbeitung angeht, wie die Kollegen in der EU. Es wird immer schwieriger, Schwarzgelder zu generieren. Glauben Sie mir, die Korruption in Russland hat für einen Menschen aus dem Westen mittlerweile recht erträgliche Maße angenommen.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

 

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