Nord Stream-2-Pipeline unter Dauerfeuer

[von Detlef Bimboes] Der Bau der Nord Stream-2-Pipeline ist hoch umstritten und soll möglichst noch verhindert werden. Da ich mich zwischen 1999 und 2007 eingehend und vor allem im Rahmen des Kasseler Friedensratschlages mit fossilen Energieressourcen und Pipelinepolitik im kaspischem Raum und der Ostsee befasst hatte, habe ich mich erneut des Themas angenommen.

Nach eingehender Recherche komme ich zu folgendem Ergebnis: sowohl die Nord Stream-1-Pipeline als auch die geplante Nord Stream-2-Pipeline sind im wesentlichen Ergebnis einer weithin politisch nicht gewollten gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsordnung unter Einbeziehung Russlands nach dem Ende der Sowjet-Union und der Auflösung des Warschauer Pakts. War die Nord Stream-1-Pipeline anfangs noch in den Planungen der EU als wichtiges Vorhaben geführt, so geriet sie zunehmend unter politisches Dauerfeuer durch die baltischen Staaten, von Polen über die Ukraine bis Schweden. Sukzessive ruderte die EU-Kommission zurück und stellte sich letztlich gegen das Pipeline-Projekt. Es war dann der damalige SPD-Bundeskanzler Schröder, der das Projekt in einer seiner letzten Amtshandlungen im Interesse und mithilfe deutscher Energiekonzerne gegen erbitterten Widerstand auf den Weg brachte.

Inzwischen hat das politische, wirtschaftliche und militärische Vormachtstreben des Westens (EU, USA) in Osteuropa zu immer härteren Auseinandersetzungen mit Russland um Macht und Einfluss in Osteuropa geführt. Unter diesen Vorzeichen ist nun wieder ein erbitterter Streit um die Nord Stream-2-Pipeline entbrannt. Eine Verlegung der Nord Stream-2-Pipeline über ukrainisches und polnisches Staatsgebiet bzw. ein entsprechender Ausbau dort verlegter Pipelines würde zum heutigen Zeitpunkt bei den inzwischen wechselseitig zerrütteten Verhältnissen mit Russland zu keiner störungsfreien und sicheren Gasversorgung führen. Eine auf friedliches Miteinander ausgerichtete Politik ist schon lange vorbei und wie es aussieht, auch künftig für lange Zeit.

Vor diesem Hintergrund war bereits der Bau der Nord Stream-1-Pipeline aus energie- und friedenspolitischen Gründen sinnvoll. Das gilt auch für den vorgesehenen Bau der Nord Stream-2-Pipeline. Beide ermöglichen mit einer Gesamtkapazität von 110 Mrd. Kubikmetern/Jahr eine störungsfreie Versorgung Deutschlands und der Europäischen Union.

Zu Streit und Notwendigkeit der Pipeline

Einige wichtige Sachverhalte lassen sich wie folgt zusammenfassen:
1. Gasversorgungskrise droht Anfang 2020

Zentralen Zündstoff für weitere Konflikte zwischen einerseits dem Westen, der Ukraine und andererseits Russland birgt der Termin 01.01.2020. Dann nämlich läuft der Transitvertrag zwischen der Ukraine und Russland aus und die Auseinandersetzungen über einen neuen Transitvertrag beginnen. Das kann – wie es bereits 2006 und 2008/2009 war, dazu führen, dass Russland den Gasexport einstellt. Dann ist mit einer Versorgungskrise der EU im Winter zu rechnen. Denn über die auf ukrainischem Staatsgebiet verlaufenden Transportpipelines werden (über die Jahre gesehen) immer noch Gasmengen zwischen 50 bis 80 Mrd. Kubikmeter nach Europa (EU-28) transportiert.

Umweltstiftungen spielen Versorgungskrise mit falschem Termin durch

Im Rahmen einer Studie von Energy Union Choices („A Perspective on Infrastructure and Energy Security In the Transition“, Frühjahr 2016) wurde ein Stresstest zur Sicherheit der Gasversorgung via Gastransit durch die Ukraine präsentiert. Der für die Dauer eines Jahres angelegte Stresstest kommt zu dem Ergebnis, dass es keine Probleme bei der Versorgungssicherheit gibt. Der Test geht aber fehl, denn er bezieht sich auf das Jahr 2030. Dann wird es tatsächlich keine Probleme mehr geben. Dann ist nämlich – worauf die Studie aber nicht explizit eingeht – genug LNG (Flüssiggas) verfügbar samt Terminals in der EU. Das müssten die Verfasser aber eigentlich gewusst haben! Oder suchte man mit diesem Datum nach einem Grund, warum man die Nord Stream-2-Pipeline nicht braucht?

An dieser Stelle ein kurzer Hinweis, wer für die Energy Union Choices Studie verantwortlich ist. Es ist eine Initiative verschiedener Stiftungen, darunter die European Climate Foundation, Agora Energiewende, E3G und WWF. In der Studie – wofür man u. a. auch „wertvollen feedback“ aus der EU-Kommission (DG Energy) und der Internationalen Energieagentur (IEA) erhielt – wurde insgesamt festgestellt, dass die bestehende Infrastruktur für Erdgas in der EU für eine sichere Versorgung ausreicht. Es ist erkennbar, dass die Studie auch das Ziel verfolgte, Stellung gegen die Nord Stream-2-Pipeline zu beziehen. So stellt dazu konkret die Stiftung E3G fest, die ebenfalls die Studie der Öffentlichkeit vorstellte, dass weder „Megaprojekte“ wie „Nord Stream II oder der Southern Gas Corridor“ notwendig sind.

  1. Pipeline dient störungsfreier Versorgung

Maßgebliche Teile der EU-Kommission sind – wie die USA, Polen, die baltischen Staaten und die Ukraine – gegen den Bau von Nord Stream 2 (Fertigstellung geplant bis Ende 2019) und zeigen mithin auch politisch keine Bereitschaft, die heraufziehende Versorgungskrise zu entschärfen. Insbesondere die USA, aber auch die EU haben zudem die reaktionäre Ukraine als Sperrriegel gegen Russland aufgebaut. Es bleibt abzuwarten, inwieweit es die schwarz-rote Bundesregierung aktuell schafft, zwischen Russland und der Ukraine im Gasstreit zu vermitteln. Wie es aussieht, versucht sie einerseits zu erreichen, dass noch substanzielle Mengen an Gas durch die Ukraine gen Westen fließen und das andererseits die Nord Stream- 2-Pipeline gebaut wird. Es ist klar, wenn die Nord Stream-2-Pipeline kommt, dann kann sie von den Kapazitäten her den Gastransit durch die Ukraine um 50 Mrd. Kubikmeter/Jahr sinken lassen. Das sind dann massiv sinkende Transitgebühren für die finanziell unter Druck stehende Ukraine. Russland wäre dann aber nur noch bei erwartbaren bzw. weiter anhaltenden Gastransitkonflikten begrenzt erpressbar. Wenn es zu keinen dauerhaft stabilen, beidseitig getragenen Kompromissen kommt, dann droht eine Eskalation mit weiteren politischen Verwerfungen, die für eine sichere und störungsfreie Gasversorgung zu vermeiden sind.

  1. USA – Kampf für eigene Gasexporte und gegen die Pipeline

Die USA setzen auf den Export von LNG, das vor allen Dingen mittels Fracking-Verfahren gewonnen wird. Die USA wollen mit aktuell verschärften Sanktionen (siehe Sanktionsgesetz) daher unbedingt noch für das Aus der Nord Stream-2-Pipeline sorgen. Sie dürften aber erst in zwei bis vier Jahren soweit sein, große Mengen an LNG zu liefern. Denn die USA müssen erst noch große LNG Terminals für den Export aufbauen. Die Lieferungen brauchen dann aber auch entsprechende Schiffskapazitäten und vor allem längerfristige Lieferverträge. All das ist mir noch nicht derzeit bekannt. Im Übrigen fehlen teilweise auch noch Anbindungen innerhalb der EU von LNG-Terminals an das europäische Ferngasnetz. Möglicherweise spekulieren führende Kreise in der EU-Kommission auf den kommenden Import von LNG-Gas aus den USA und tun deshalb so wenig gegen die drohende Versorgungskrise ab dem 01.01.2020.

  1. EU-Gasinfrastruktur und Importkapazitäten

Die bestehende Gasinfrastruktur in der EU ist aus meiner Sicht ausreichend und bedürfte keines maßgeblichen weiteren Ausbaus (außer einem gewissen Netzausbau im Innern der EU) für den Übergang in das solare Zeitalter. Die innereuropäische Versorgung (EU-28) ist mit einer Importkapazität von derzeit insgesamt ca. 670 Mrd. Kubikmeter sichergestellt. Zum einen wird die EU über große pipeline-gebundene Importkapazitäten aus Russland (ca. 224 Mrd. Kubikmeter), Norwegen (ca. 180 Mrd. Kubikmeter) und Nordafrika (ca. 75 Mrd. Kubikmeter) versorgt. Zum anderen sind in den letzten Jahren LNG-Importkapazitäten in Höhe von 191 Mrd. Kubikmeter hinzugekommen, die in den nächsten Jahren auf 223 Mrd. Kubikmeter steigen sollen.

Kapazitäten entsprechen nicht Nachfrage bzw. Bedarf. Und hier wird es interessant. So wird seitens des Prognos-Instituts in einer Studie („Status und Perspektiven der europäischen Gasbilanz“), die im Auftrag für die Nord Stream AG durchgeführt wurde, für das Jahr 2045 ein Bedarf von 442 Mrd. Kubikmeter vorhergesagt. Diese Menge bezieht sich auf den Import EU-28/Schweiz inclusive Westbezug der Ukraine. Damit liegen meiner Auffassung nach die derzeitigen Importkapazitäten von 670 Mrd. Kubikmeter bereits weit über einem selbst von Absatzinteressen eines Gaskonzerns mitdiktierten Bedarf. Und dieser hohe Bedarf ist auch nicht notwendig, wenn die Energiewende auf erneuerbarer Grundlage engagiert durchgesetzt wird. Hinweise dazu gibt auch die erwähnte Energy Union Choices Studie.

Jedenfalls besteht rein rechnerisch von den Kapazitäten her kein zusätzlicher Bedarf für den Bau der Nord Stream-2-Pipeline (Kapazität 55 Mrd. Kubikmeter) und auch nicht für den Ausbau der LNG-Kapazitäten um weitere 32 Mrd. Kubikmeter.

Hinweis zu den russischen Importpipeline-Kapazitäten in die EU:

Die Gesamtkapazität aller Importpipelines von Russland in die EU beträgt ca. 224 Mrd. Kubikmeter (incl. Nord Stream-1-Pipeline), davon 137 Mrd. Kubikmeter Transit durch die Ukraine. Modernisierung und upgrading könnten diese Transitpipelines auf ukrainischem Staatsgebiet auf ca. 175 Mrd. Kubikmeter (!) Transportvolumen erweitern. Damit wäre zusätzliche Kapazität von 38 Mrd. Kubikmeter Erdgas gewonnen. Das hätte praktisch die Möglichkeit eröffnet, ohne die Nord Stream-2-Pipeline auszukommen. Denn die über ukrainisches Staatsgebiet führenden Transportpipelines sind von ihren Kapazitäten her nicht ausgelastet. Gemäß Kenntnisstand werden darüber (über die Jahre gesehen) nur noch Gasmengen zwischen 50 bis 80 Mrd. Kubikmeter nach Europa (EU-28) transportiert.

Bei Fortsetzung einer Friedens- und Entspannungspolitik hätten diese Pipelines also für eine sichere Versorgung der EU ausgereicht. Das aber wäre nur möglich gewesen, wenn die Ukraine für einen langfristig sicheren Transit gesorgt hätte bzw. sorgen könnte. Gerade das jedoch dürfte bei den gegebenen politischen Verhältnissen nicht gewährleistet sein.

Hinweis zu den LNG-Importkapazitäten:
Die europäischen LNG-Kapazitäten, die den Zugang zum Welterdgasmarkt öffnen, wurden in den vergangenen Jahren aus zwei Gründen geschaffen:

Zum einen ist für Norwegen längerfristig mit einem Rückgang der Erdgaslieferungen zu rechnen, da dessen Gasvorkommen – wie auch die von England und den Niederlanden – langsam zur Neige gehen. Nordafrika ist gekennzeichnet von Lieferunsicherheiten (Libyen) bzw. künftig steigendem Eigenverbrauch (Algerien).

Zum anderen – und das ist entscheidender – um sich unabhängiger von russischem Erdgas zu machen, obwohl dessen gewaltige Vorräte – die teilweise nicht erschlossen sind – noch für lange Zeit reichen.  Auch das ist ein Ergebnis der von EU und USA vorangetriebenen Zerstörung friedlicher Beziehungen zu Russland. Der geplante milliardenschwere Ausbau der LNG-Importkapazitäten um 32 Mrd. Kubikmeter auf 223 Mrd. Kubikmeter ist nicht notwendig. Stattdessen ist das Geld für den Ausbau erneuerbarer Energien in der EU auszugeben.

Ob es durch den Bau der Nord Stream-2-Pipeline zusammen mit LNG aus den USA zu einem Überangebot an Gas, womöglich gar zu einer Gasschwemme, kommt oder nicht, darüber entscheiden politische, rechtliche und vor allem wirtschaftliche Gesichtspunkte.

  1. Erdgas als Brücke in das solare Zeitalter

Über das Ende fossiler (+ atomarer) Energieträger in der EU-28 entscheiden maßgeblich deren Mitgliedstaaten. Die bisherigen Klima- und energiepolitischen Zielsetzungen bis 2030 sind bislang unverbindlich und nicht rechtsverbindlich in den Mitgliedstaaten beschlossen und mit dazugehörigen Maßnahmenbündeln versehen.  Es ist unklar, in welcher Zeit und in welcher Geschwindigkeit der Umbau stattfinden wird. Es bestehen für mich inzwischen Zweifel am raschen Gelingen angesichts der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen und kulturellen Verfasstheiten in den einzelnen Nationalstaaten. Gelingen kann das nur, wenn energisch die soziale und ökologische Frage integriert vorangetrieben wird und die Kosten nicht auf die arbeitende Bevölkerung und vom Abstieg bedrohte Mittelschichten abgewälzt werden. Ansonsten sind große Widerstände zu erwarten, die die notwendige Energiewende und einen klimagerechten Umbau noch mehr gefährden und verzögern.

Der Aufbau großer und kleinerer Stromerzeugungskapazitäten auf erneuerbarer Grundlage ist vergleichsweise einfach. Hingegen ist das Gelingen der notwendigen Wärmewende auf erneuerbarer Grundlage gerade im Wohnbereich sehr viel schwieriger und langwieriger. Dabei ist nicht nur eine kostenintensive Wärmedämmung in den Blick zu nehmen, sondern auch der ebenfalls teure millionenfache und vorrangig notwendige Austausch von Kohle- und Ölheizungen gegen erdgasbetriebene Brennwertkessel bzw. elektrisch betriebene Wärmepumpen (Umgebungswärme i. V. mit Photovoltaik-Eigenstrom). Hilfreich ist zudem der rasche Ausbau von Power-to-Heat als kostengünstige und kurzfristig einsetzbare Methode. Die seit vielen Jahren regelrecht explodierende Nutzung von Holz in großem Maßstab zur Energie- und Wärmegewinnung (insbes. Waldholz) ist keine Alternative zu Erdgas. In großem Maßstab genutzt ist Holz nicht als klimaneutral zu bewerten.

Vor diesem Hintergrund ist der Einsatz von vergleichsweise klimafreundlichem Erdgas unter Ausschluss von Kohle und Atomenergie zur Gewinnung von Energie, Wärme und für die Herstellung von Chemieprodukten noch für viele Jahre als Brücke in das solare Zeitalter sinnvoll. Gleichzeitig müssen sich natürlich alle Anstrengungen darauf richten, auch fossiles Erdgas so rasch als möglich zu ersetzen durch die Nutzung erneuerbarer Energien, vor allem aber den Verbrauch durch Energieeinsparung zu reduzieren. In Zukunft dürfte auch die Herstellung von CO2-neutralem, künstlichem Methan eine bedeutsame Rolle spielen, das anhand des Power-to-Gas Verfahrens gewonnen und in das bestehende Erdgasnetz eingespeist werden kann.

Bearbeitungsschluss: 22.05.2018

Verfasser: Dr. Detlef Bimboes, Mitglied der Ökologischen Plattform bei der Partei DIE LINKE

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